Zwei Schwestern und ein Mutter-Monster
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Tilda träumt von einem anderen Leben fern der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. Doch da sind ihre kleine Schwester und die alkoholkranke Mutter. Caroline Wahls Debütroman "22 Bahnen" um Freiheit und Verantwortung geht ans Herz.
"Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmus, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado." Waren über den Scanner ziehen, Person erraten, dann erst hochschauen - dieses Spiel spielt Tilda, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt. Im Fall des 30,72-Euro-Einkaufs ist es dann zwar kein schlaksiger Mann mit rahmenloser Brille, sondern eine junge Frau, aber sie trägt das prophezeite Shirt mit dem Levi's-Schriftzug.
Tilda studiert Mathematik, verdient nebenbei als Kassiererin Geld und schwimmt jeden Tag ihre "22 Bahnen", so der Titel des Debütromans von Caroline Wahl. Manchmal kommt Tildas zehnjährige Schwester mit ins Schwimmbad, aber nur, wenn es regnet. Sonst sitzt Ida lieber in ihrem Zimmer und malt.
"Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent", stellt Ich-Erzählerin Tilda fest. Aber die beiden leben in keiner "Abendbrottisch-Familie", wie sie es nennt, gemeinsame Mahlzeiten mit den Eltern und ein Familienleben gibt es nicht. "Ich hatte keinen Zahnarzt-Vater, ich hatte gar keinen Vater. Ich hatte nur eine Mutter, die sich verhielt wie ein verantwortungsloser Teenager." Die Mutter ist Alkoholikerin. Es fing an, als Tilda 13 Jahre alt war und einmal in der Woche den "Klaras Bücherstube"-Jutebeutel voll mit leeren Flaschen zum Glascontainer schleppen musste. Inzwischen liegt der Rekord der Mutter bei vier Flaschen Wein und Sekt pro Tag.