
Auf toten Gesichtern schmilzt kein Schnee
n-tv
Han Kangs jüngster Roman widmet sich einem dunklen Kapitel koreanischer Vergangenheit: dem Massaker von Jeju. Zwischen Schmerz und rührseligem Idyll schafft die Literaturnobelpreisträgerin ein eisiges Stück Erinnerungskultur - mit der Tendenz zum Wintermärchen.
Der Fall einer Schneeflocke dauert maximal eine Stunde. Wassermoleküle klammern sich in einer Wolke aneinander, in ihrer Mitte Partikel aus Ruß oder Schmutz, bevor sie als Kristall zur Erde sinken. Die kleinen Leerräume zwischen den verästelten Strukturen lassen die Flocke schweben - und alle Geräusche um sie herum verschlucken. Inmitten dieser eisigen Stille beginnt Han Kangs jüngster Roman: "Unmöglicher Abschied".
Auf einem weißen Acker steht Gyeongha, eine Schriftstellerin aus Seoul, und beobachtet das Schneetreiben. Was so friedlich scheint, entpuppt sich als Albtraum: Zu Tausenden spült die plötzliche Flut Gebeine von toten Kindern, Männern und Frauen aus ihren Gräbern - der erste Erinnerungsfetzen an ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel koreanischer Geschichte.
