Lang lebe der Grenzwert
Süddeutsche Zeitung
Wer hätte das gedacht: Deutschlands Städte erfüllen fast durch die Bank Europas Normen für gute Luft. Dummerweise fängt die Arbeit damit erst an.
Wie haben Europas Vorgaben für bessere Luft vor ein paar Jahren noch die Fantasie angeheizt! Auto-Ingenieure verwandten viel Hirn darauf, die Abgastests ihrer Motoren auszutricksen. Städte überlegten, Messstationen in verkehrsschwache Gegenden zu verlegen, weg von der schlechten Luft. Aus der Politik wurden Zweifel an den Grenzwerten laut: Sind die vielleicht zu hoch, wenn sie sich partout nicht einhalten lassen? Wenige Jahre ist das her, und nun das: Fast alle deutschen Städte halten die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub ein. Zwei Jahre vielleicht noch, dann ist das Thema schlechte Luft auch an der letzten Durchgangsstraße vom Tisch.
Jedenfalls nach den geltenden Grenzwerten.
Nach all dem Streit über Umweltzonen, Fahrverbote und Betrugs-Software lehrt dieser Erfolg: Grenzwerte sind keine Schikane, sie sind Ansporn. Beim Feinstaub etwa führten sie über Umweltzonen und die Nachrüstung von Rußpartikelfiltern zu deren serienmäßigen Einbau. Das Thema Stickoxide erledigten, jenseits übler Tricksereien, neue Abgasnormen und Testverfahren; und damit letztlich die Erneuerung der Fahrzeugflotte. Der Erfolg ist auch nicht abstrakt, sondern spürbar für alle, die entlang der großen Einfallstraßen wohnen und nicht selten wohnen müssen, weil sie sich bessere Wohnlagen nicht leisten können. Er ist auch ein Erfolg für die Kleinsten, deren Nasen naturgemäß eher auf Höhe der Auspuffrohre sind als die ihrer Eltern. Ist Deutschland damit am Ziel? Das nicht.
Diesem Ziel - gesunde, unbedenkliche Atemluft - läuft das Land hinterher, seit es Umweltgesetzgebung kennt. "Maßstab jeder Umweltpolitik", so hieß es im ersten deutschen Umweltprogramm, "ist der Schutz der Würde des Menschen, die bedroht ist, wenn seine Gesundheit und sein Wohlbefinden jetzt oder in Zukunft gefährdet werden." Gut 50 Jahre ist das her, doch aus der Welt ist diese Gefahr bis heute nicht. Sie lässt sich nur nicht mehr so riechen, fühlen oder schmecken wie einst. Messbar aber ist sie immer noch: Sei es in der Luft in Form von Feinstaub, im Wasser als Nitrat, im Boden als Stickstoff. Jeder Grenzwert wird so zwangsläufig zum moving target, zum beweglichen Ziel: Man kann ihn erreichen - und ist doch noch nie ganz fertig.
In Sachen Luft hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ihre Empfehlungen im vorigen Jahr noch einmal deutlich verschärft, sie sind nun um ein Vielfaches strenger als alles, was die EU bisher verlangt. Aus gutem Grund: Feinstäube und Stickoxide bleiben eine Last für Gesundheit und Wohlbefinden. Und was ihre Minderung angeht, gibt es, wenn man so sagen darf, immer noch Luft nach oben.
