Den Schulen könnten bald noch viel mehr Lehrer fehlen als bislang befürchtet
Süddeutsche Zeitung
Wie viele Lehrkräfte werden gebraucht - und wie viele stehen zur Verfügung? Bildungsforscher Klaus Klemm hat die Prognosen der Kultusminister überprüft. Sein Ergebnis: Sie haben sich zweimal verrechnet.
Den Schulen in Deutschland stehen schwere Wochen bevor - und akuter Lehrermangel. Die Infektionszahlen gerade unter Kindern und Jugendlichen erreichen täglich neue Höchstwerte, und auch die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, die vorübergehend ausfallen, steigt. Baden-Württemberg etwa meldete am Montag 1132 Lehrer, die positiv auf Corona getestet wurden, und 807, die sich in Quarantäne befanden. Beide Werte liegen in etwa doppelt so hoch wie eine Woche zuvor. Um Betreuungslücken zu stopfen, bot Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) Schulen und Kitas bereits Verstärkung durch pädagogische Fachkräfte an, die für Programme des Bundes arbeiten. Es gelte, so Spiegel, "alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren".
Doch ein eklatanter Mangel an Lehrkräften, der die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen erforderlich macht, ist für die deutschen Schulen keineswegs ein kurzfristiges, von Corona verursachtes Problem. Im Gegenteil: Gerade Grund- und Förderschulen haben schon seit Jahren mit massivem Lehrermangel zu kämpfen, den die Länder nur notdürftig mit Quereinsteigern und reaktivierten Pensionären kompensieren können. Vielen Schulen, das bestreitet auch die Kultusministerkonferenz (KMK) nicht, stehen nicht nur schwere Wochen, sondern schwere Jahre bevor. Und womöglich wird die Lage noch schlimmer als bislang angenommen.
Der Passauer Pädagogik-Professor Norbert Seibert warnt: Die am schlechtesten ausgebildeten Lehrkräfte würden auf die schwächsten Schüler losgelassen. Und die Corona-Pandemie mache alles noch schlimmer.
Der renommierte Essener Bildungsforscher Klaus Klemm hat im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) untersucht, wie belastbar die KMK-Prognosen zum Lehrermarkt für die Jahre 2020 bis 2030 sind. Sein Ergebnis, das er am Dienstag vorstellte: Die Länder haben sich verrechnet. Im Jahr 2025 werden Klemms Berechnungen zufolge 45 000 Lehrer an den Schulen fehlen - und damit mehr als doppelt so viele, wie von der KMK kalkuliert. Für das Jahr 2030 prophezeit Klemm gar eine Lücke in den Lehrerzimmern von 81 000 Personen, fast sechs Mal so groß wie von den Kultusministerien vorhergesagt. Und selbst das, glaubt Klemm, ist erst die halbe Wahrheit.
Die Prognose der KMK geht davon aus, dass zwischen 2020 und 2030 insgesamt knapp 350 000 neu ausgebildete Lehrkräfte die Universitäten verlassen und den Schulen zur Verfügung stehen werden, im Schnitt etwa 32 000 pro Jahr. Klemm ist der Meinung, dass es tatsächlich mehr als 60 000 weniger sein werden. Der Grund: Die Zahl der Schulabsolventen sinke aktuell ebenso wie die Zahl der Studierenden im Lehramt.