
Der 9. November und andere Gedenktage: Besichtigung einer Gedächtnisbaustelle
Frankfurter Rundschau
Welche Maßstäbe gibt es für die Auswahl von Ereignissen im Rahmen der Erinnerungskultur? Warum sollten Ereignisse wie der Sturz der Mauer 1989 oder die Ausrufung der Republik 1918 aus dem nationalen Gedächtnis der Deutschen herausfallen? Ein Beitrag zur Debatte über den 9. November.
In den Medien läuft seit Längerem ein erhitzter Streit darüber, ob der Holocaust auch in Zukunft seine zentrale Rolle im Gedächtnis der Deutschen behalten soll. Der Grund dafür ist das Aufkommen weiterer historischer Erinnerungen in der Migrationsgesellschaft. Gibt es noch Platz im Gedächtnis der Deutschen oder bedeutet jede Ergänzung automatisch eine Verminderung der Holocaust-Erinnerung oder gar eine Absage an sie? Manche sprechen schon von einem „Abschied von unserer Leiterinnerung“ und einem „Selbstentkernungsversuch“.
Diese Debatte über die deutsche Erinnerungskultur hat sich auf einem hohen abstrakten Niveau eingespielt. Wer sich für ihre aktuellen Probleme interessiert, tut jedoch gut daran, die Flughöhe der Adler zu verlassen und sich auf den Boden der Empirie zu begeben. Tatsächlich ist das nationale Gedächtnis eine Dauerbaustelle. Hier finden permanent Verschiebungen und Veränderungen statt. Zum Beispiel arbeiten zehn Jahre nach dem 4. November 2011, dem Selbstmord der NSU-Täter gerade jene Städte zusammen, die zum Schauplatz dieser Morde geworden sind, und planen, wie sie diese Spuren des Terrors gegen Deutsche mit einer migrantischen Herkunft sichern und in eine gemeinsame Erinnerung übernehmen können.
Ein weiteres Anschauungsfeld für Umbauarbeiten ist der 9. November. Hier lautet die Frage: Wie geht man mit einem solchen mehrfach überschriebenen Datum um? Die Empfehlung von Dr. Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist klar. Er empfiehlt, sich aus dem ambivalenten Paket von Geschichtsdaten, die in das Datum des 9. November eingeschweißt sind, nur eines herauszuholen: den 9. November 1938, die Pogromnacht, den Tag der Kriegserklärung gegen die Juden, 10 Monate vor dem Beginn des 2. Weltkrieges gegen die europäischen Nachbarn. Sein Grund: Er befürchtet eine Ambivalenz und emotionale Überforderung der Bevölkerung: Man könne sich doch nicht am selben Tag freuen über den Sturz der Mauer oder die Ausrufung der ersten demokratischen Republik, und gleichzeitig mit Trauer, Scham und Schmerz an den in ganz Deutschland inszenierten Ausbruch der Gewalt gegen jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen.













