
1972: Als Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß noch Pelzmäntel trugen
Frankfurter Rundschau
Manche Jahreszahlen leuchten kräftiger als andere. 1972 vollzog sich die gesellschaftliche Liberalisierung mit all ihren Widersprüchen. Eine Zeitreise zu Willy Brandt, Gudrun Ensslin und Ulrike Meyfahrt. Von Harry Nutt
Warum wird in der Rückschau einigen Jahreszahlen eine größere Bedeutung beigemessen als anderen? Erscheinen sie über die geschichtliche Relevanz hinaus nicht geradezu mythisch aufgeladen? Florian Illies hat mit einer zeithistorischen Tiefbohrung in das Jahr 1913 die Vorkriegszeit in der Ambivalenz zwischen Ahnungslosigkeit und Bedrohung vor Augen geführt. Paradigmatisch für diese Methode der literarischen Einfühlung hatte zuvor bereits der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht das Zwischenkriegsjahr 1926 in den Blick genommen, um an zufälligen, historisch nicht zwingend paradigmatischen Ereignissen eine Geschichte der Ähnlichkeiten kenntlich zu machen. So scheinen Hitler und Kafka bei Gumbrecht auf furiose Weise in ihrer Bürokratiefeindlichkeit zusammenzutreffen.
Für dieses Frühjahr ist bei dtv eine Studie von Christian Bommarius angekündigt, der sich in das Jahr 1923 vertieft hat, das Inflationsjahr, das das Ende der Nachkriegszeit und den Auftakt der „goldenen 20er Jahre“ der Weimarer Republik markiert, die Peter Gay einst als „Republik der Außenseiter“ beschrieben hat.
Lässt sie diese Methode beliebig vervielfältigen? Wahrscheinlich nicht. Dennoch schweifen meine Gedanken unweigerlich in das Jahr 1972, das nun bereits 50 Jahre zurückliegt. Warum 1972? Viele erinnern sich vermutlich daran, als Deutschland im eigenen Land zum zweiten Mal nach 1954 Fußball-Weltmeister wurde, obwohl oder weil das sogenannte Sparwasser-Tor dem Kampf der Systeme eine ganz besondere Note verliehen hatte, sportlich und politisch. Das war 1974.
Zwei Jahre zuvor aber hatte so etwas wie die mythische Geburt dieser Mannschaft stattgefunden. Beckenbauer, Maier, Hoeneß, Breitner, Netzer und Co. waren Europameister geworden. Der Sieg von 1974 war der größere Triumph, aber der von 1972 war das reinere Ereignis. 1974 wurde mit einiger Mühe vollzogen, was 1972 in großer Eleganz und Leichtigkeit zelebriert worden war. 1974 war Arbeit, 1972 Kunst. Oder Pop. Es fällt auf, dass Netzer, Breitner und sogar Beckenbauer sich zu dieser Zeit wie Popstars kleideten und sich gern vor und in ihren schnellen Autos fotografieren ließen – zum Teil in Pelzmänteln.
Es gab in dieser Zeit eine Zeitschrift namens „Popfoto“, deren redaktionelles Konzept darin bestand, aktuelle Fotos von populären Bands zu veröffentlichen. Keine Reportagen oder Homestorys über Rockstars, dafür waren andere Blätter zuständig, allen voran der „Rolling Stone“ und der „Melody Maker“. „Popfoto“ beschränkte sich aufs Bilderzeigen. Und diese Bilder belegten, ganz beiläufig, einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel. Es war nicht alles anders geworden, aber die Welt und die Menschen, die sich in ihr bewegten, sahen anders aus. Popfoto zeigte die Avantgarde dieser modischen und habituellen Andersartigkeit.













