
Ukraine-Krieg – Russland hat nichts mehr im Angebot
Frankfurter Rundschau
Der Krieg gegen die Ukraine offenbart einen antimodernen Imperialismus. Hinter der Demonstration militärischer Stärke lauert erschreckende Zukunftslosigkeit.
Als Frank-Walter Steinmeier als Bundesaußenminister 2006 zu einer mehrtägigen Regierungsreise nach Estland, Lettland und Litauen aufbrach, wich er von der Gewohnheit ab, die einschlägig bekannten Journalisten und Journalistinnen aus den Hauptstadtbüros der Zeitungen und Rundfunkredaktionen einzuladen. Die kleinen Länder des Baltikums standen nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit, eher ging es damals um Wirtschaftsbeziehungen und kulturellen Austausch.
In Nidden auf der litauischen Kurischen Nehrung eröffnete Steinmeier am dortigen Thomas-Mann-Haus ein Literaturfestival, und an der Gedenkstätte in Ponary, einem kleinen Ort in der Nähe von Vilnius, in dessen Wäldern zwischen 1941 und 1944 über 70 000 Juden von den Nazis ermordet worden waren, legte er einen Kranz nieder.
Im Tross des Außenministers befanden sich der in Riga geborene Architekt Meinhard von Gerkan und der Schriftsteller Sten Nadolny, dessen ostpreußische Familie über weit zurückreichende Bindungen zu Russland verfügte. Der Großvater Rudolf Nadolny war 1933 zum deutschen Botschafter in Moskau berufen worden. In fast jedem Gespräch am Rande dieser Reise wurde deutlich, dass es eine deutsche Normalität nur geben kann, wenn man sich der historischen Fakten bewusst wird, die insbesondere dem Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern zugrunde liegen.
Aber natürlich gab es auch 2006 eine politische Wirklichkeit jenseits der Gedenktermine. Unmissverständlich wurde auf dieser kurzen Amtsvisite deutlich, dass die Länder des Baltikums dabei waren, den Aufbruch in eine postsozialistische Moderne zu wagen. Estland galt als weitgehend digitalisiertes Land, in Tallinn wurde man des zu einer europäischen Aufgeschlossenheit tendierenden Freigeists in jedem Stadtwinkel gewahr. Als das kleinste der drei baltischen Länder wirkte Estland am quirligsten, in Lettland schien man sich indes der Tatsache bewusst zu sein, dass es trotz einer beachtlichen wirtschaftlichen Potenz weiterhin guter Beziehungen zu Russland bedurfte. Das lag nicht nur an den jeweils hohen russischen Bevölkerungsanteilen in den baltischen Ländern. Unvergessen war trotz aller Freiheitsbestrebungen die russische Pranke spürbar, die die baltischen Länder während der Sowjetzeit getroffen hatte.
Die russische Pranke, das war keineswegs eine unfreundlich-martialische Metapher. Ein lettischer Intellektueller, der die Nähe zu den deutschen Gästen gesucht hatte, sprach zur Erläuterung der aktuellen Verhältnisse den denkwürdigen Satz aus: „Wenn du nicht auf Russland zugehst, dann kommt Russland zu dir.“ Wir hörten es erstaunt und hielten es für eine Übertreibung. Der Respekt vor der russischen Macht und letztlich auch die Angst vor ihr waren unüberhörbar.













