
Der neue deutsch-polnische Polizeiruf „Hildes Erbe“: Wenn die Uhr tickt
Frankfurter Rundschau
„Hildes Erbe“: Der deutsch-polnische Polizeiruf ist neu sortiert und startet verheißungsvoll.
Liegt es daran, dass Adam Raczek im Schatten von Olga Lenski stand? Liegt es daran, dass Lucas Gregorowicz anders wirkt, wenn man endlich „Der Pass“ (Gregorowicz als penetranter Boulevardreporter), außerdem kürzlich „Mord in der Familie“ (Gregorowicz als verdruckster Sohn) gesehen und insgesamt eingesehen hat, dass er ein facettenreicher Darsteller ist? Im ersten deutsch-polnischen rbb-Polizeiruf der neuen Zeit ist er ziemlich interessant, um Jahre gealtert und nicht ganz so schlaflos wie Al Pacino in „Insomnia“, aber fast.
Sein beklagenswerter Zustand wird einerseits befeuert, andererseits gemildert durch den Kommissarsanwärter Vincent Ross, André Kaczmarczyk, abgesehen von der Frisur ein echtes Gegenstück und der erste markant genderfluide Ermittler in einem Sonntagabendkrimi.
Genderfluid ist nicht sein Wort, er hat nicht vor, sich zu erklären, er ist, der er ist, trägt Rock oder Hose, schminkt sich dezent die Augen im Look der 80er, tanzt anmutig, fährt sehr bedacht Auto – der Hauptkommissar fährt derweil wie eine gesengte Sau – und umarmt andere Menschen, wenn er es will. „Wehr dich nicht, komm.“ Er ist selbstbewusst, fix und vorlaut, und wie viele naseweise Leute auch rasch eine Spur beleidigt. Er hat Psychologie studiert, damit hält er allerdings nicht hinterm Berg. Er sagt gerne, wo es lang geht, im Großen wie im Kleinen. „Wie kanalisiert du denn den ganzen Schmerz?“, sagt er zu Raczek. „Hä?“, sagt Raczek. Und wenn der Hauptkommissar „Indianer“ und „Macke“ sagt, sagt der Kommissarsanwärter: Man sage „Indigene“ oder „First Nations“ und „unbewältigtes Trauma“.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Vincent Ross auf dem Stand der Dinge ist und Raczek nicht so. Raczek behält aber die Ruhe, lernt ihn auch schätzen. Und wenn er ihn am Ende nicht doch noch zusammenfalten würde, sähe man die beiden schon gemeinsam ins Abendrot reiten. So ist es besser.
Das Erfrischendste am ersten deutsch-polnischen Tatort der neuen Zeit ist aber, dass Anika Wangard und Eoin Moore, der auch Regie führt, in ihrem Buch trotz des obligatorischen Anfangsgedudels eine gute Geschichte erzählen. Vincent Ross tritt darin zunächst als Zeuge auf, zu Rückblenden hört man nur seine Stimme, originell. Sein neuer Nachbar, ein hedonistisch wirkender Student, ist ermordet worden – wer sich nicht vorab informiert hat, stolpert in die Situation. Wer ist wichtig, wer ist eh gleich tot?
