Briefe von Walter Boehlich zum 100. Geburtstag: Die Geschichte einer Radikalisierung
Frankfurter Rundschau
Zum 100. Geburtstag von Walter Boehlich zeigen seine Briefe, wie er mit den Verhältnissen haderte.
Viel mehr als eine politische war die Revolte von 1968 eine kulturelle Bewegung. Der gesellschaftliche Aufbruch erfasste damals Theater ebenso wie Bildende Kunst und Literatur. Und die Umwälzung geschah nicht nur buchstäblich auf der Straße, sie bildete sich auch in der Sprache ab. Unzählige Reden wurden gehalten, Pamphlete, Aufrufe, Resolutionen verfasst. Einer der Texte mit der größten Wirkungsmacht erschien im Sommer 1968 im Kursbuch 15, herausgegeben von Suhrkamp in Frankfurt, damals das literarische Zentrum Deutschlands. Der Cheflektor des Verlags, der seinerzeit 47-jährige Walter Boehlich, hatte dieses „Autodafé“ verfasst. Es begann mit den provozierenden Worten: „Die Kritik ist tot.“
Dass ausgerechnet Boehlich, einer der wichtigsten Männer des Literaturbetriebes, diesen Abgesang geschrieben hatte, galt dem Establishment in der Branche, darunter Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, als ungeheuerliche Nestbeschmutzung. Nach dem Satz „Die Kritik ist tot“ hieß es bei Boehlich weiter: „Welche? Die bürgerliche, die herrschende. Sie ist gestorben an sich selbst, gestorben mit der bürgerlichen Welt, zu der sie gehört, gestorben mit der bürgerlichen Literatur, die sie schulterklopfend begleitet hat, gestorben mit der bürgerlichen Ästhetik, mit der sie ihre Regeln begründet hat, gestorben mit dem bürgerlichen Gott, der ihr seinen Segen gegeben hat.“ Bis zu seinem Tod 2006 hat ihn dieser Text verfolgt. Immer wieder musste er sich gegen die Interpretation verwahren, er habe das Ende der Literatur überhaupt beschworen.
Am heutigen 16. September wäre Boehlich 100 geworden. Der Schöffling Verlag veröffentlicht aus diesem Anlass eine Auswahl von 211 Briefen, darunter viele nie publizierte. Dieses Panorama entfaltet sich zu einer kleinen Literaturgeschichte der deutschen Nachkriegszeit. Es zeigt einen Homme de lettres, der sein Leben der Literatur und der Pflege der Sprache gewidmet hat. Der Sohn des Schriftstellers Ernst Boehlich, aus einer jüdischen Familie stammend, hinterließ mehr als 8700 Briefe. Er korrespondierte mit Ingeborg Bachmann und Hilde Domin, Martin Walser, Uwe Johnson, Peter Weiss. Er übersetzte Bücher aus dem Spanischen, Französischen und Dänischen, nur drei der vielen Sprachen, die er beherrschte. Während er in der Literatur die Welt bereiste, blieb sein physischer Lebenskreis klein: Von 1957 bis 2001 wohnte er im gleichen Domizil im Frankfurter Westend, das am Ende einer Höhle glich, angefüllt von Tausenden von Büchern. Er lebte allein, nur mit seinen geliebten Hunden.