Sind Navis schlecht für die Orientierung? Ein genauer Blick
Frankfurter Rundschau
Weil alle Navis nutzen, geht in der digitalen Welt der Orientierungssinn verloren. Gibt es Beweise für diese Behauptung?
Frankfurt – „Immer mehr Menschen nutzen Navis statt Karten. Was macht das mit dem Orientierungssinn?“ So lautete die Ankündigung des Artikels im Wissensteil der „Süddeutschen Zeitung“ vor ein paar Tagen. Die Überschrift der Onlineversion wurde noch etwas deutlicher: „Orientierungssinn: Geht er in der digitalen Welt verloren?“ Im Artikel selbst kommt die Frage dann nur am Rande vor, und die Antwort lautet: „Womöglich leidet die Fähigkeit zur Orientierung gar grundsätzlich, wenn das Smartphone oder das Navi stets die Reiseleitung übernimmt. Was nicht trainiert wird, verkümmert, so ist das.“ Ja nun, womöglich. Ich möchte da nicht allzu vorwurfsvoll gucken, meine Kolumnen bestehen zu geschätzten 32 Prozent aus dem Wort „womöglich“.
Als Quelle für die Womöglichkeit dient im „SZ“-Artikel ein 2021 auf Englisch erschienenes Buch über Orientierung und Verirren. Der Autor dieses Buchs, Michael Bond, ist überzeugt, dass unser Orientierungssinn gerade verkümmert. Er beruft sich dabei auf eine Studie aus dem Jahr 2014. In dieser Studie hat die Stadtforscherin Negin Minaei untersucht, wie Verkehrsmittel und Navi-Gebrauch die mentalen Stadtpläne von Menschen beeinflussen, die in London wohnen.
Zu diesem Zweck zeichneten 101 Freiwillige innerhalb von maximal zwanzig Minuten einen Stadtplan von London, auf dem sie ihren Standort markierten. Wenig überraschend kam heraus, dass das Selberfahren mit Auto oder Fahrrad besser für den Orientierungssinn ist als das Herumgefahrenwerden in Bus oder U-Bahn. Der Gebrauch von Navigationsgeräten oder –Apps hatte in dieser Studie keinen Einfluss auf vier von fünf der untersuchten Aspekte. Nur in einem Aspekt unterschieden sich die Navi-Nutzenden von den übrigen Versuchspersonen: Ihre Karten zeigten seltener die ganze Stadt und häufiger nur ihre eigene Gegend.
Es kann also eigentlich nicht an Minaeis Studie liegen, dass beide Autoren – der des Zeitungsartikels und der des Buchs – an den Niedergang unseres Orientierungssinns „in der digitalen Welt“ glauben. Vermutlich haben sie persönliche, anekdotische Gründe für ihre Annahme, was ja auch völlig okay ist. Ich habe persönliche, anekdotische Gründe für die Annahme, dass sich durch Navi-Gebrauch der Orientierungssinn verbessert.
Bevor es digitales Kartenmaterial gab, habe ich meine Vorstellung von der Welt so gut wie nie an Karten abgeglichen. Entsprechend verzerrt waren meine inneren Stadtpläne und Himmelsrichtungen. Als man dann von den späten 90er Jahren am eigenen Computer Routenplanung (in meinem Fall für das Fahrradfahren) betreiben konnte, besserte sich die Lage und meine Vorstellung von meinem Wohnort wurde etwas realitätsnäher. Mit den jederzeit konsultierbaren Karten auf dem Smartphone – für mich ab 2008 – beschleunigte sich dieser Vorgang. Ich nehme viel öfter als früher die neuen Wege, die mir die Routenplanung vorschlägt, statt immer die gleichen, und erweitere so meine Kenntnisse der Gegend.