Radka Denemarková: „Stunden aus Blei“ – Schwermetall im Getriebe
Frankfurter Rundschau
Der imposante China-Roman „Stunden aus Blei“ der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarková.
Das Buch sieht so imposant aus, dass es gleich das Zimmer beherrscht, in dem es auf dem Tisch liegt. Roter Einband, schwarz geprägte Titelbuchstaben und die schwarze Zeichnung eines Vogels, auch die Seiten bilden einen schwarzen Block. Es braucht den gestalterischen großen Auftritt, damit man sich dem Roman ernsthaft nähert. Die Schriftstellerin Radka Denemarková ist in der Tschechischen Republik zwar prominent und in Deutschland spätestens seit dem Tschechien-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse vor drei Jahren auch nicht mehr unbekannt, aber fremd genug, um übersehen zu werden.
Sie habe, schreibt die Autorin in der Nachbemerkung (auf Seite 869), „Stunden aus Blei“ wie einen Tempel erbaut. 2013, 2015 und 2016 ist sie wiederholt nach China gereist, dort habe das Thema sie gefunden – nicht umgekehrt. Der Roman, untergliedert in zehn Teile mit Namen wie aus einer fernöstlichen Lehre, zu denen je ein Schriftzeichen steht – für „Leben“ etwa, „Atem, Stärke, Energie“ oder „Geistseele“ -, spielt weitgehend in China, vor allem in Peking, in einigen Passagen auch in Prag. Er folgt einer tschechischen Schriftstellerin, die in der dritten Person auftritt und keinen Namen trägt, durch China, erzählt von den Menschen, die sie begleiten – und von denen, die sie beobachten. Selbst in einem kommunistischen Land aufgewachsen zu sein, das vom gescheiterten Versuch eines demokratischen Sozialismus gezeichnet war, lässt sie viele Parallelen entdecken. 1968 ist das Geburtsjahr von Radka Denemarková.
Dazu kommt zum Beispiel der Programmierer aus Tschechien, der zu Hause nicht mehr gebraucht wird. Mit ihm erzählt Denemarková vom Internet, den sozialen und asozialen Medien. Seine Tochter Olivie findet sich im Heranwachsen weder mit der Trennung der Eltern über Tausende von Kilometern noch mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen noch mit dem eigenen Körper zurecht.
Eine Beobachterrolle hat der Diplomat, von Berufs wegen muss er die „Willigen“ und „Umerziehbaren“ erkennen, von ihnen die „Unumerziehbaren“ trennen. Die Schriftstellerin, die mal hier, mal da auftaucht, erscheint nicht nur ihm als ein gefährlich eigensinniges Subjekt. Die junge Chinesin, ihr als Spitzel zugeteilt, lässt sich von ihr allmählich in Gespräche verwickeln und zu Lektüre verleiten, die der eigenen Mutter suspekt ist. Václav Havel! Am Fall der beiden Frauen erzählt Denemarková von Chinas Ein-Kind-Politik. Viele heimlich geborene Kinder landeten in Lagern.
Manche Figuren tauchen plötzlich auf, etwa der Literaturwissenschaftler Murmel, der die Menschen seiner Zeit nicht mehr versteht. „Allen, auch den begabtesten, scheint etwas Trauriges zugestoßen zu sein. Der geistige Radius seiner Kollegen ist auf die Größe eines Vorstadtgartens geschrumpft.“ Oder die Frau, die als dreijähriges jüdisches Mädchen mit einem der letzten Kindertransporte nach England kam: Mit ihr tritt der Holocaust ins Buch, das größte Verhängnis des 20. Jahrhunderts. Sehr spät erst hat diese Frau begonnen, über ihre Herkunft nachzudenken. Sie und auch Murmel werden sich weiter ins Erzählgewebe fügen, Freundschaften gibt es, Kontakte.