Plädoyer für Bürgerräte: Machen wir 2022 zum Jahr einer Re-Demokratisierung
Frankfurter Rundschau
Die Koalition hat die Einführung von Bürgerräten versprochen, die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht wäre eine gute Gelegenheit.
Von führenden Fachleuten aus der Virologie ist zu hören, dass der aktuelle Omikron-Tsunami den Beginn der endemischen Lage – und damit der Phase einläuten könnte, in der eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens angezeigt ist. Die politischen Entwicklungen der Gegenwart machen deutlich, dass die anstehende Normalisierung nicht darin aufgehen kann, die Normalität des Alltags zurückzugewinnen. Es kann nicht einfach darum gehen, alle Einschränkungen aufzuheben. Die anstehende Normalisierung kann aber auch nicht in immer neuen Pirouetten in den Fragen einer allgemeinen Impfpflicht gelingen. Verlangt sind vielmehr demokratische Erneuerungen. Wir sollten das Jahr 2022 zum Jahr einer Re-Demokratisierung machen.
Ein erster Lernschritt in diese Richtung ist mit der Einsicht getan, die sich aktuell in der Öffentlichkeit durchsetzt: dass der expertokratische Politikstil Rationalitäts- und Demokratiedefizite zeitigt, dem sich neue wie alte Regierung in der Krise angenähert haben. Von vielen Seiten wird inzwischen reflektiert, dass sich aus dem Tatsachenwissen der empirischen Wissenschaften keine alternativlosen politischen Entscheidungen ableiten lassen; und dass ein Regierungsstil, der politische Gestaltungsfragen zu Wissensfragen entpolitisiert, ein pluralistisch-demokratisches Miteinander untergräbt.
Zu demokratischer Normalisierung gehört Aufarbeitung: eine kritische Auseinandersetzung mit den Kosten und den Opfern, die die Corona-Politik immer dann verursacht hat, wenn die Regierung – in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Beratungsgremien – als Expertokratie aufgetreten ist. Die politischen Kosten reichen von den Blindheiten einer allein mathematisch-mechanistischen Krisenanalyse über übereilte Entscheidungen unter selbst konstruiertem Entscheidungsdruck bis zu den gesellschaftlichen Polarisierungen. Zusammen mit diesen politischen Kosten hat die Corona-Politik in den letzten Jahren menschliches Leid produziert, wenn sie beim Durchsetzen der vorgeblich alternativlosen Maßnahmen maßlos geworden ist. Insbesondere ist an das einsame Sterben von Menschen zu denken, denen es unter rigider Isolierung nicht gestattet wurde, ein letztes klärendes Gespräch zu führen, die leibliche Nähe ihrer Nächsten im Augenblick ihres Todes zu spüren.
In den anstehenden demokratischen Erneuerungen ist der Blick nicht nur zurück, sondern auch nach vorne zu richten. In konstruktiver Absicht muss es jetzt darum gehen, die Lehren aus den Grenzen expertokratischer Politik zu ziehen. Es sind neue Formen der demokratischen Partizipation und neue Wege des politischen Umgangs mit wissenschaftlicher Expertise zu entwickeln – jenseits der Scheinalternativen einer Politik der wissenschaftlich verbürgten Alternativlosigkeit und einer Willkürherrschaft der „alternativen Fakten“. In ihrem Koalitionspapier hat sich die Ampel dazu verpflichtet, ein wichtiges Instrument für solch eine demokratische Erneuerung zu fördern: die Bürgerräte.
Jetzt wäre es an der Zeit, diese Selbstverpflichtung umzusetzen. Es liegt nahe, die zeitlichen Verzögerungen bei den parlamentarischen Entscheidungen über eine allgemeine Impfpflicht ins Positive zu wenden und auf Bundesebene einen Bürgerrat zum politischen Umgang mit den Corona-Impfungen einzuberufen. Ein Blick in das demokratische Musterland Irland zeigt, dass sich der politische Umgang mit den Impfungen gerade in seiner Brisanz als Thema für einen Bürgerrat gut eignet.