Israel und der Nahostkonflikt: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards
Frankfurter Rundschau
Über eine neue, erschreckend einseitige Studie zum Thema Antisemitismus. Von Gert Krell und Micha Brumlik
Wie bei fast allen anderen Großgruppenkonflikten gibt es auch zum Nahost-Konflikt ein breites Spektrum von Deutungen; gibt es vor allem zwischen den Konfliktparteien große Unterschiede bis hin zu Positionen, in denen die eigene Seite als völlig unschuldig dargestellt und alle Verantwortung der anderen zugeschoben wird. Zwar finden sich da auch eindeutig antisemitische Feindbilder wie „Israel – Kindermörder“ oder, in Deutschland mit bis zu 50 Prozent Zustimmung, das was Israel mit den Palästinensern mache, sei auch nicht besser als das, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten. Andere Themen freilich wie mögliche Zusammenhänge zwischen Zionismus und Kolonialismus oder das Unwort „Apartheid“ für die Zustände in den besetzten Gebieten werden selbst in der israelischen Fachdiskussion kontrovers diskutiert.
Nun liegt eine Studie vor mit dem Titel „Israelbezogener Antisemitismus: Erkennen – Handeln – Vorbeugen“ aus der Feder von Julia Bernstein aus Frankfurt, die Aufklärung, Klarstellungen und Handlungsanweisungen verspricht. Julia Bernsteins Verdienste in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus sind unbestritten; ihr neues Buch freilich ist eine große Enttäuschung. Das Hauptproblem sehen wir darin, dass die Autorin mit der palästinensischen bzw. arabischen Konfliktpartei genau dasselbe macht, was sie im Falle Israels als Antisemitismus bekämpft: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards. So lautet die zentrale These des Buches, der Nahostkonflikt werde Israel von der anderen Seite aufgezwungen. Sein Ursprung liege in der Absicht, Israel zu zerstören, und seine Entwicklung sei vom Antisemitismus bestimmt worden; auch der Anspruch des palästinensischen Nationalismus auf das Land sei antisemitisch. Sie untermauert diese These unter anderem damit, dass sie durchgängig von Judäa und Samaria als alten jüdischen Stammländern mit Jerusalem als mehrtausendjährigem Zentrum der jüdischen Kultur spricht. Das Wort „Besatzung“ hält sie deshalb für unbegründet, denn Israel habe auch Rechte auf die „umstrittenen Gebiete“. Was die Gewalttätigkeit im Konflikt angeht, so verteidige sich Israel nur, die Araber seien immer die Angreifer; Terror und terroristische Organisationen gibt es nur auf der anderen Seite. Auch habe Israel immer wieder Frieden angeboten, sei aber immer wieder abgewiesen worden.
In der Friedens- und Konfliktforschung nennt man so etwas eine „dichotomische Konfliktperzeption“, in der englischen Fachsprache „self-whitewashing and other-maligning“. Nur wenige der zahlreichen Fachbücher zum Nahostkonflikt und zum israelbezogenen Antisemitismus artikulieren sich so einseitig wie Julia Bernstein. Die meisten Autor:innen gehen von einer Wechselwirkung („Dialektik“) der Gewalt aus, bei der beide Seiten agieren und reagieren; einige sehen für die Zeit nach 1967 sogar mehr Kompromissbereitschaft auf der arabischen Seite als bei Israel. Dass es in Israel zahlreiche Gruppierungen gibt, die sich politisch gegen die Besatzung und die Siedlungspolitik engagieren, deutet Julia Bernstein nicht einmal an. Ihr erscheint es offenbar nicht als Widerspruch, dass große Teile der israelischen Politik, auch Juden und Nicht-Juden in Deutschland, schon die rhetorische Infragestellung des staatlichen Selbstbestimmungsrechts der Bürger:innen Israels als antisemitisch beklagen, gleichzeitig aber die reale Infragestellung eines vollen Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser mit einem eigenen Staat gezielt vorantreiben oder hinnehmen.