Ein Imperator namens Klavier
Süddeutsche Zeitung
Über den heimlichen Herrscher der zeitgenössischen Popmusik. Und wie immerhin "Tocotronic", PJ Harvey, "Jethro Tull" und die "Eels" sich ihm widersetzen.
Jethro Tull sind zurück, nach fast 20 Jahren. Oder ist es doch nur Frontmann Ian Anderson, der bekannteste (weil einzige) Flötist der Rockgeschichte? Der 74-jährige starrt jedenfalls sehr ernst, ohne Band und anscheinend nackt vom Cover. Die Musik dazu erinnert an den Folk-Rock, den Jethro Tull Ende der Siebziger definierten: Keine ausladenden Prog-Epen, sondern kompakte, melodiegetriebene Songs, in denen aber trotzdem so viele Ideen stecken, dass es auch für ein Prog-Album gereicht hätte. Mehr als ein halbes Jahrhundert Erfahrung im Songwriting scheint sich vor allem darin niederzuschlagen, dass Anderson weiß, wie man zum Punkt kommt. Die Kombination aus Querflöte und E-Gitarre ist noch immer eine ganz eigene Nische, aus der Zeit gefallen und ziemlich beispiellos. Gleichzeitig kauzig und zugänglich, unaufgeregt und trotzdem einfallsreich. Alles vorgetragen mit ernster Ironie. Wie angenehm. Nicolas Freund
Die Popmusik hat einen heimlichen Herrscher. Sein Name ist Klavier. Das Ding ist einfach überall, und spätestens seit die Neoklassikwelle durch den Wohlstandswesten schwappt - hin und her und hin und her - zwangsberührt es jede abgetragene Seele, die sich nicht bei drei in den Schweinerock geflüchtet hat. Wie russische Oligarchen hat das Klavier viele Wohnsitze. Heuer erteilt es seine sinistren Befehle aus Berlin in der Inkarnation von Tara Nome Doyle. Die als neues Wunder des Düster-Pop gehandelte Songwriterin legt ihr zweites Album vor. Es heißt "Værmin" (Modern Recordings/BMG) und ist nur echt mit der A-E-Ligatur, diesem edlen Zeichen, das immer ein bisschen nach England vor 1066 aussieht. Doyle singt aber nicht von angelsächsischen Prinzessinnen, sondern widmet sich Blutegeln und Raupen. Flächiges Orgeln sorgt für Pathosgrundierung. Dann setzt ihre Stimme ein, die weder Leech noch Caterpillar ist, sondern irgendwas zwischen Lindling und Schmetterwurm, je nach Modus (Brust/Kopf) und Exaltationsgrad.
Man glaubt zunächst, der Opener "Leeches", in dem gefallene Sterne den Boulevard erleuchten, mogele sich an der totalen Macht des Imperators vorbei, doch wehe! Ein staubiger Akkord ertönt! Auftritt: DAS KLAVIER. Es heißt, an ihm schriebe die junge Deutsch-Irin aus der Hauptstadt ihre Songs. Aber wir wissen es besser. Sie ist nur das Medium des Instruments mit den unerbittlichen Stahlsaiten und verfilzten Holzhämmern. Das beweist auch das Musikvideo zu ihrer Single "Caterpillars", in dem sie aussieht wie eine der englischen Fellmützen mit Wachsoldat unten dran, die in den Barbietopf gefallen ist, sich anschließend verschleiert und auf Gothic geschminkt hat. Die Bedeutung bleibt unklar, aber es ist sehr verdächtig. Dahinter kann nur das Klavier stecken, auch wenn immer mal wieder ein leicht nervöses Schlagzeug in den Songs auf "Værmin" vorbeischaut. Nichts als Ablenkung!
Jedes Lied ist nach einem Tier benannt. Dabei handelt es sich eher nicht um Schafe oder Elefanten, sondern die eher fragwürdigen Vertreter der Symbolfauna. Krähen. Moskitos. Schlangen. Flatter, Kreuch und Fleuch. Die besungene Mücke entpuppt sich als kunstvoll geschichtetes Stimmlooparrangement. Insgesamt wird also wieder viel gelitten auf diesem Album, aber das tatsächlich mit großer musikalischer Reife. Wer die Macht des Moll-Pianos nicht fürchtet, sich der Vibratovioline hingibt und nicht arachnophob ist (es gibt ein Liebeslied aus Spinnenperspektive) sollte "Værmin" unbedingt hören. Juliane Liebert
Wer glaubt, damit hätte DAS KLAVIER sein Pulver schon verschossen, irrt jedoch gewaltig. Denn es kann auch "achtsam". Dieses schreckliche Wort hat Hans-Joachim Roedelius in Bezug auf seine jüngste Veröffentlichung ausgesprochen, doch das Krautrockurgestein ist vielleicht der einzige Mensch auf Erden, dem man es verzeihen möchte. "4 Hands" (Erased Tapes/Indigo) ist ein in unprätentiöser Meisterschaft komponiertes Gemeinschaftswerk mit dem Regisseur Tim Story. Mal wähnt man sich bei Erik Satie, dann scheint Debussy hineinzutropfen. Alles ist hier Klavier. Sehr nah und wirklich. Es knarzt manchmal so wärmend wie ein Lagerfeuer knistert. Sanftmütig vergrübelte Ostinati, ein Atmen. Das Haltepedal bleibt Dir immer treu, mein Freund. Nach den ersten beiden Tracks fürchtet man zunächst, in meditativen Schlaf zu verfallen. Wer durchhält, will aber irgendwann nicht mehr auf Stopp drücken. Möge einen das Klavier auf ewig einlullen. Es hat mal wieder gewonnen. Juliane Liebert