Die Boheme ist nicht im Krieg, sie steht sich nur selbst im Weg
Die Welt
Die Berliner Boheme werde von Staat und Kapital abgeschafft, glaubt der Theoretiker Diedrich Diederichsen. Doch seine Diagnose ignoriert die Realitäten von Antisemitismus und einer radikalisierten Popkultur – und übersieht den Kern aller kreativen Freiheit.
Die Berliner Boheme werde von Staat und Kapital abgeschafft, glaubt der Theoretiker Diedrich Diederichsen. Doch seine Diagnose ignoriert die Realitäten von Antisemitismus und einer radikalisierten Popkultur – und übersieht den Kern aller kreativen Freiheit. Man ist ja vor allem froh. Auch wenn Berlin zuletzt als Kunststadt weniger wichtig wurde, ist die Stadt immer noch für eine Debatte gut – wenn auch für nicht viel mehr. Als Refugium für Künstler habe Berlin im Jahr 2025 nämlich endgültig ausgedient, beklagt der einflussreiche Kritiker und Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen in seinem grundsätzlich gestimmten Essay „The War on Bohemia“ in der Dezemberausgabe des amerikanischen Kunstmagazins „Artforum“. Letzteres ist Leitmedium. Der Text ist Teil eines Jahresrückblicks, wird viel gelesen – und lässt nichts Gutes hoffen. „Die Zahl der Orte auf der Welt, an denen man mit ernsthaft betriebener bildender Kunst seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ist drastisch geschrumpft – zugleich wächst die Zahl der Orte, an denen Menschen für konsequentes kreatives Handeln ins Gefängnis kommen, in alarmierendem Tempo“. Es war nie leicht, gegen den Mainstream zu schwimmen und die Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Nun aber ist es fast unmöglich, argumentiert Diedrichsen. Die Boheme bietet dem prekären Kreativen kein Ausweichquartier mehr an, sie lockt nicht mehr mit einer künstlerischen oder akademischen Mini-Karriere, wenn es für den Kunstmarkt nicht reicht. Die Digitalisierung zieht den Bohemiens das bisschen Boden weg, das unter den Künstlerfüßen noch vorhanden war. Das wenige Geld, das man mit kleineren Aufträgen oder Verkäufen machen konnte, wird vom entfesselten Kapital vereinnahmt und der Kreative fortgestoßen wie eine ausgerauchte Selbstgedrehte. Mieten steigen, Preise wachsen, Förderungen werden gestrichen. Das stimmt. Aber Diederichsen schildert keine Konjunktur, sondern einen finalen Abgrund. Habe es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch einen Pakt gegeben zwischen Staat und Kapital einerseits und den unangepassten Schöpfern andererseits, so sei es damit jetzt endgültig vorbei. Die Boheme sei dem Kapital nutzlos geworden und werde deshalb verachtet und unterdrückt: „Zunächst tolerant, doch zugleich verächtlich; später extraktiv, die Boheme als spekulativen Vermögenswert sowie als Quelle von Soft Power und symbolischem Kapital ins Visier nehmend; schließlich repressiv.“
