Armin Nassehi: „Unbehagen“ – Die Kunst, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen
Frankfurter Rundschau
Der Krisenmodus ist kaum dazu geeignet, Krisen zu meistern: Armin Nassehi entwirft eine Theorie der überforderten Gesellschaft.
So unterschiedlich die Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren erlebt und wahrgenommen werden konnte, wird man sich heute über die sozialen Milieus hinweg vermutlich doch mühelos darauf verständigen, dass einiges so richtig schiefgelaufen ist. In den unterschiedlichen Aggregatzuständen der diskursiven Auseinandersetzung war von Verlust der Normalität, missglücktem Krisenmanagement und unzureichender Ausstattung des Gesundheitswesens ebenso die Rede wie von Corona-Diktatur, Impfzwang und Staatsversagen. Die politischen Repräsentanten wurden wechselweise als selbstherrliche oder verunsicherte Entscheider wahrgenommen, die sich von eilig angeeignetem Expertenwissen und steigenden Inzidenzwerten treiben ließen.
Man konnte es auch ganz anders sehen. Mit einem kühl-distanzierten Blick auf die Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Funktionssysteme jedenfalls wäre festzustellen gewesen, dass diese durchaus in der Lage waren, ihre Bordmittel zum Einsatz zu bringen. Das Wissenschaftssystem konnte das Virus schnell identifizieren und klassifizieren und stellte in Rekordzeit wirksame Impfstoffe bereit, das medizinische System wartete mit Diagnose- und Therapiemethoden auf.
Zwar waren die wirtschaftlichen Abläufe massiven Störungen ausgesetzt, rasch jedoch standen Reaktionsweisen zur Verfügung, um sich auf die Ausnahmesituation einzustellen. Schulen und Familien haben trotz offensichtlicher Probleme neue Formen des Austauschs etabliert, und das politische System war nach Kräften bemüht, tragfähige Entscheidungen bereitzustellen. Die Gesellschaft habe, so fasst es der Münchner Soziologe Armin Nassehi zusammen, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.