Schwule Männer in Singapur: „Endlich werden wir nicht mehr wie Kriminelle behandelt“
Frankfurter Rundschau
Singapur hebt ein Gesetz aus der Kolonialzeit auf, das schwulen Sex unter Strafe stellte. In anderen Ländern der Region steht Homosexualität hingegen noch unter Strafe.
München/Singapur – Einmal im Jahr versammelt sich halb Singapur vor dem Fernseher. Immer kurz nach dem Nationalfeiertag des asiatischen Stadtstaats tritt der Premierminister vor die TV-Kameras, um über die Zukunftspläne seiner Regierung zu sprechen. Die „National Day Rally“ ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der politischen Folklore des Landes; in den Tagen danach dominiert sie die Zeitungsschlagzeilen, Meinungsforscher befragen die Bürgerinnen und Bürger, was sie von der Rede halten.
Joshua Simon hat sich den Auftritt von Premier Lee Hsien Loong diesmal zusammen mit seinem besten Freund angeschaut. „Als die Rede begann, war ich wie erstarrt“, erzählt der junge Mann. „Wir schauten uns an und dann wieder auf den Bildschirm und konnten es kaum glauben.“ Denn was Premierminister Lee an jenem Abend Ende August verkündete, war eine kleine Revolution: Seine Regierung, so der 70-Jährige, werde ein jahrzehntealtes Gesetz abschaffen, das Sex zwischen Männern unter Strafe stellt. „Ich hatte das Wort ‚schwul‘ noch nie zuvor so oft im Fernsehen gehört“, erzählt Joshua Simon ein paar Tage nach der historischen Rede. „Wir kreischten und applaudierten, als verkündet wurde, dass der Paragraf 377A aufgehoben werden soll.“
Der Paragraf 377A stammt noch aus der britischen Kolonialzeit, eingeführt wurde er im Jahr 1938. Betroffen waren nur Männer, keine Frauen. Versuche, ihn abzuschaffen, gab es viele, bislang waren diese aber vergeblich. Über Jahre vollzog die Regierung von Singapur einen seltsamen Spagat: Um keine Seite zu verärgern – weder die Schwulenaktivisten noch die Vertreter konservativer Gruppierungen – blieb Paragraf 377A in Kraft, wurde aber nicht mehr angewendet. Sex zwischen Männern blieb also weiterhin verboten, Verurteilungen gab es allerdings nicht.
Für Joshua Simon war das Ende des „Schwulenparagrafen“ dennoch ein wichtiger Schritt. „Schwule Männer werden endlich nicht mehr wie Kriminelle behandelt“, sagt er im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. Simon ist einer der beiden Moderatoren des englischsprachigen Podcasts „The SG Boys“. Zusammen mit Sam Jo spricht der 32-Jährige einmal im Monat über schwule Beziehungen, Coming-out und Liebe in Zeiten von Dating-Apps.
So offen wie Joshua Simon gehen allerdings nur wenige Männer in Singapur mit ihrer Homosexualität um. Denn die Gesellschaft des 5,5-Millionen-Einwohner-Landes ist noch immer stark konservativ geprägt. Doch die Dinge ändern sich allmählich: Noch 2018 war einer Umfrage zufolge mehr als jeder zweite Befragte dafür, dass der Paragraf 377A in Kraft bleibt. Vier Jahre später waren es nur noch 44 Prozent. Ein Erfolg von Aktivistinnen und Aktivisten, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass die Verfassung des Landes ihren Bürgerinnen und Bürgern eigentlich Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.