Edgar Selge „Hast du uns endlich gefunden“: „...desto fremder werde ich mir“
Frankfurter Rundschau
Der Schauspieler Edgar Selge debütiert im Alter von 70 Jahren mit einem beeindruckenden autobiografischen Roman.
Was für ein Debüt mit über 70 Jahren! Edgar Selge, einer der herausragenden Schauspieler der Bundesrepublik, erzählt aus seiner Kindheit als Zwölfjähriger im westfälischen Herford. Die Gattungsbezeichnung für diesen Text sucht man allerdings vergebens. Nicht von einem Roman ist hier die Rede und auch nicht von einer Autobiographie. Vieles wird dicht am Erlebten lang erzählt. Doch weil die Erinnerung nicht alles transportiert und trügerisch sein kann, kommt immer wieder die Fiktion ins Spiel. So ist „Hast du uns endlich gefunden“ eine im besten Sinne wahre Erfindung.
Edgar Selge beginnt sein episodisch angelegtes, in den späten 50er Jahren hin und her springendes Erinnerungswerk mit einem „Hauskonzert“. Im Zentrum steht hier der Vater, der ein Jugendgefängnis leitet und ein großer Klassik-Liebhaber und leidenschaftlicher Pianist ist. Um den Jugendlichen eine kulturelle Bereicherung zu ermöglichen, lässt er regelmäßig sein Haus umräumen und die Gefangenen Platz nehmen. Dann greift er in die Tasten.
Die Familie ist in die Organisation der Hauskonzerte selbstverständlich stark eingebunden. Fünf Jungen gehören dazu, von denen einer früh beim Spielen mit einer Handgranate und ein anderer im Alter von 19 Jahren an einer schweren Erkrankung stirbt (was in einem niederschmetternden Epilog geschildert wird). Mittendrin Edgar, der wie der Autor im Jahre 1948 geboren wurde. Er selbst bezeichnet sich als Träumer, der Selbstgespräche führt. Gerne spielt er im Birnbaum sitzend den Fliegerangriff auf Rotterdam nach, klaut Geld für seine Kinobesuche, macht andere nach, „um sie auf Distanz zu halten“, und weiß die richtigen Fragen zu stellen, um eine angespannte Situation zur blitzefeuernden Entladung zu bringen.