Moskau wird nervös – „Sanktionen werden noch mehr Wirkung zeigen“
Frankfurter Rundschau
Wladimir Putin versetzt die Atomstreitkräfte in Bereitschaft – wohl auch, weil es in der Ukraine für ihn nicht läuft wie geplant.
Moskau – Auch Krieg wird zur Alltäglichkeit. „Wir gehen nachts Streife, um Diversanten aufzuspüren“, berichtet der Krimtatare Erfan aus Kiew. Man höre Gewehrfeuer und Raketenabschüsse. „Aber bei uns im Viertel ist es ruhig.“ Und dann erzählt er vom stellvertretenden Finanzdirektor des russischen Konzerns Gazprom, der Selbstmord begangen hat. „Die Sanktionen werden noch mehr Wirkung zeigen.“
Die Nerven im Kreml wirken inzwischen enorm gespannt. „Hohe Vertreter der Nato erlauben sich aggressive Äußerungen an die Adresse unseres Landes“: Mit dieser Begründung befahl Wladimir Putin am Sonntag, die „Abschreckungskräfte“, also auch die Atomkräfte, in Kampfbereitschaft zu versetzen. „Russland pokert noch höher“, kommentiert der Militärexperte Alexander Golz. „Und das ist äußerst gefährlich.“
Die Nervosität im Kreml könnte auch mit der nicht wirklich triumphalen militärischen Entwicklung in der Ukraine in Verbindung stehen. An der Donbass-Front gewinnen die Russen trotz ihrer Überlegenheit in der Luft und an Feuerkraft nur mühsam an Boden, in der Schwarzmeerregion Cherson belagern sie die Städte Cherson und Berdjansk. Vor allem im Norden gibt es offenbar keine zusammenhängende ukrainische Abwehrfront, aus Belarus stoßen russische Kolonnen ins ukrainische Hinterland und bis nach Kiew vor. Am Sonntag drangen russische Kampfwagen ins halb eingekreiste Charkow ein, konnten sich aber dort ebenso wenig festsetzen wie vorher russische Stoßtruppen in Kiew.
Außer den ukrainischen Soldaten stellen sich ihnen auch Freiwillige der Territorialverteidigung und Menschen aus der Zivilbevölkerung entgegen. Allein in Kiew wurden 37 000 Sturmgewehre an die Freiwilligen verteilt. Und der Telegram-Kanal Ostannij Blockpost zeigte am Samstag, wie zwei russische Schützenpanzer eine Straßenbarrikade in Kiew rammen und die Verteidiger sie mit einem Hagel Molotowcocktails in lodernde Flammen setzen.
„Wir erleben einen riesigen Maidan“, sagt Erfan mit Hinweis auf die Straßenkämpfe bei der Revolution von 2014. Die ukrainischen Internetportale sind voller Videos von zerstörten russischen Fahrzeugkolonnen, abstürzenden russischen Kampfhubschraubern, kleinlauten russischen Gefangenen. Aber auch mit wütenden Dialogen zwischen russischsprachigen Ukrainer:innen und russischen Soldaten: „Ihr seid Besatzer, ihr seid Feinde, ihr seid seit dieser Sekunde verflucht“, verkündet eine Frau im Schwarzmeerstädtchen Henintschesk einem Kommandeur „Hier, nehmt Sonnenblumenkerne, frische, damit wenigstens Sonnenblumen wachsen, wo ihr sterbt.“