Galgenfrist für die Riffe
Süddeutsche Zeitung
Meeresströmungen können Korallenriffe teils vor den Folgen des Klimawandels schützen. Doch wie lange noch?
Korallen gehören zu denjenigen Lebewesen, die der Klimawandel besonders hart trifft. Selbst wenn es gelingen sollte, die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius zu stoppen, werden bis Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich 70 Prozent aller Korallenriffe verschwunden sein. Schon bei einer Erwärmung um zwei Grad Celsius dürften es 99 Prozent sein, also so gut wie alle. Das haben verschiedene Studien unabhängig voneinander gezeigt.
Ein internationales Forscherteam hat jetzt genauer untersucht, wie sich die Situation in den zwölf Erdregionen entwickeln wird, in denen es die meisten Korallenriffe gibt: vor Australien, wo auch das bekannte Great Barrier Reef liegt, vor Brasilien, in der Karibik, im West-Pazifik, vor Ost-Asien, im Ost-Pazifik, bei Fidschi, bei Hawaii, im Indischen Ozean, im Persischen Golf, bei Polynesien und im Roten Meer.
Der Klimawandel hat bereits weite Teile des größten Riffs der Erde zerstört. Mit viel Geld und ungewöhnlichen Methoden versuchen Wissenschaftler, das große Sterben aufzuhalten. Von Tim Kalvelage
Der derzeitige Zustand all dieser Korallen hängt der Untersuchung zufolge, die gerade im Wissenschaftsjournal Plos Climate erschienen ist, unter anderem davon ab, ob sie sich in einem "thermalen Refugium" befinden. Darunter verstehen die Wissenschaftler um die Biologin Adele Dixon von der britischen University of Leeds Bereiche im Meer, die die klimawandelbedingte Erwärmung der Wassertemperatur abpuffern können. Kühlend wirken sich beispielsweise starke Strömungen aus, die erwärmtes Wasser schnell abtransportieren. Ein anderes Puffer-Phänomen ist der sogenannte Auftrieb. Dabei steigt kühleres Wasser aus tiefer gelegenen Schichten nach oben und bewirkt, dass die Temperatur nahe der Korallen nicht zu stark ansteigt.
Dixon und ihr Team haben berechnet, dass sich momentan 84 Prozent aller Korallenriffe in Meeresregionen befinden, die die Folgen des Klimawandels noch abpuffern können. Riffe in diesen thermalen Refugien werden statistisch gesehen seltener als alle zehn Jahre von einer Hitzewelle getroffen, die zur berüchtigten Korallenbleiche führt. Dabei steigt die Wassertemperatur auf mehr als 30 Grad Celsius an. Die Nesseltiere reagieren darauf, indem sie ihre Partner abstoßen, mit denen sie normalerweise in Symbiose zusammenleben: winzige Algen, die sie mit Zucker und anderen Nährstoffen versorgen und im Gegenzug Schutz und Kohlendioxid bekommen.