Sitzen beim russischen Präsidenten: Putins Gespür für große Räume und lange Tische
Frankfurter Rundschau
Die Bilder der Krisendiplomatie dieser Tage zeugen von einer langen Geschichte aus Ermächtigung, Behauptung und Selbstbehauptung. Die Kolumne.
In der Geschichte der Behausung war die funktionale Zuordnung von Tisch und Stuhl keineswegs immer so eindeutig voneinander unterschieden, wie man heute zu wissen meint. Einst saß und speiste man auf der Truhe, jenem zweckmäßigen Möbel, in dem im Fluchtfall rasch alle Habseligkeiten verstaut und transportiert werden konnten. Alles war der Mobilität untergeordnet, Komfort und Bequemlichkeit gingen erst später aus der Sesshaftigkeit hervor, das Wort Gewohnheit zeugt noch von dieser sich langsam vollziehenden Entwicklung.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurde sie gelegentlich in Schwingungen versetzt. Mies van der Rohes „Freischwinger“, der sich als moderner Sitzmöbel-Klassiker anhaltender Beliebtheit erfreut, war nicht zuletzt eine ironische Replik auf jene Zeit, in der das Sitzen noch mit der Bereitschaft zum plötzlichen Auf- und Abspringen verknüpft war. Der grandiose Baumeister hatte sich die Idee zu seinem praktisch-eleganten Sessel von den Sitzgelegenheiten amerikanischer Landmaschinen abgeschaut.
Die Krisendiplomatie der vergangenen Wochen hat wieder einmal deutlich gemacht, wie elementar die Habachtstellung in der Welt der Mächtigen ist. Wladimir Putin, der im Kreml zuletzt ein reges Gästeaufkommen zu verzeichnen hatte, zwang seine Besucher in unterschiedliche Arrangements mit Möbeln.
Wie eine Katze, die angesichts eines nicht enden wollenden Tisches irritiert vom Vorhaben eines kurzen, schnellkräftigen Sprunges absehen muss, hockte der Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, vor seinem Gegenüber – zwei Männer, die in unwirtlicher Umgebung ihrer archaischen Daseinsgeschichte gewahr wurden.
Der deutsche Bundeskanzler war anschließend bloß ein Wiederholungsfall. Auch Olaf Scholz musste an diesem Tisch der wahren Empfindung Platz nehmen. Hätte man ihm nicht wenigstens eine Tasse Tee hinstellen können?