Mord und Elend im düsteren Wien: "Der letzte Tod" von Alex Beer im Check
RTL
Der fünfte Band der August-Emmerich-Reihe von Alex Beer. Im Wien des Jahres 1922 muss der Kommissar eine brutale, grenzübergreifende Mordserie lösen.
Mit einem furiosen Auftritt startet Kommissar August Emmerich in das Geschehen von Alex Beers "Der letzte Tod", dem mittlerweile fünften Teil ihrer Emmerich-Reihe. Heutzutage würde man wohl von einem "Rant" sprechen. "Hundertzwanzig Kronen! Können Sie das glauben? Hundertzwanzig kosten die seit heute – und ich rede nicht von der ganzen Packung. Ich rede von einer Zigarett'n […] wissen Sie, was die vor dem Krieg gekostet haben […] einen verdammten Heller."
Es ist September 1922 und die Inflation hat Österreich im Griff. Doch das ist nicht das einzige Problem, mit dem der Wiener Kommissar sich herumzuschlagen hat. Noch bevor er sich abregen kann, bekommt er es mit einer brutalen, grenzübergreifenden Mordserie zu tun, bei der der Täter seine Opfer in engen luftdicht abgeschlossenen Behältnissen ersticken lässt. Dann soll er auf Anweisung seines Chefs auch noch mit dem Psychoanalytiker Sandor Adler zusammenarbeiten, was bei dem Polizisten alter Schule auf wenig Begeisterung stößt. Zumal sich bald herausstellt, dass Adler auch die Dienstfähigkeit des unkonventionellen und eigenwilligen Emmerich beurteilen soll. Als wäre das alles noch nicht genug Stress, bricht auch noch der Ex-Mann und Mörder von Emmerichs Frau aus dem Gefängnis aus, um den Kommissar endgültig aus dem Weg zu räumen. Kein Wunder also, dass Emmerichs Nervendecke reichlich dünn ist, was zu einem erhöhten Zigarettenkonsum führt – ein Teufelskreis…
Überhaupt ist kaum etwas vom Wiener Glanz der Kaiserzeit übrig, Sisi ist lange tot, ihr Mann, Kaiser Franz Joseph, hat das große Reich acht Jahre zuvor ins Verderben gestürzt und den ersten großen Weltenbrand entfacht. Krieg und Niederlage haben überall ihre Spuren hinterlassen. Wien ist ein Moloch, in dem Armut und Verbrechen herrschen. Nur in einigen wenigen prachtvollen Häusern zelebrieren Kriegsgewinnler ihren neuen überbordenden Reichtum, während der Adel Schadensbegrenzung übt und der verlorenen Bedeutung und Stellung hinterhertrauert.
Beer hat genau recherchiert und zieht den Leser mit ihren detaillierten und anschaulichen Beschreibungen tief in die düstere Atmosphäre der sozialen Trümmer einer traumatisierten und ums Überleben kämpfenden Weltstadt. Man kann beinahe spüren, wie mit jedem Morgen, an dem der kriegsversehrte und zunehmend desillusionierte Emmerich die Straßen "seiner" Stadt betritt, der Graben zwischen arm und reich wieder ein wenig breiter geworden ist. "Wie konnte es sein, dass nur wenige Meter entfernt Kinder verhungerten, alte Menschen darbten und verzweifelte Witwen ihre Körper verkaufen mussten, während hier geprasst wurde, als ob es kein Morgen gäbe?", fragt er sich während der Ermittlungen.
Vielleicht funktionieren diese Beschreibungen auch deshalb so gut, weil vieles auch 100 Jahre später immer noch aktuell ist: Die Schere zwischen Armen und Reichen, gewaltsame Proteste auf den Straßen (auch wenn die Gründe in Coronazeiten anderen sind), Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus. Manche Szenen, in die Emmerich gerät, könnten auch in der Gegenwart stattfinden.
Alex Beer gelingt ein sehr anschauliches und detailliertes Porträt einer Zeit des erzwungenen Umbruchs, den die meisten aufgrund der Umstände nur sehr schwer als Aufbruch begreifen können. Eine Zeit, die – wie wir heute wissen – maßgeblich darüber mitentschieden hat, was die Zukunft bringen würde. Und sie schlägt dabei einen unaufdringlichen Bogen in die Gegenwart, denn viele Themen, die die Gesellschaft damals prägten, hinterlassen eine Spur hinein in unsere Zeit.
Mit August Emmerich hat Beer einen starken und komplexen Charakter geschaffen, den man einfach lieben muss, weil er unerschütterlich an seinem moralischen Kompass festhält. Auch, wenn das bedeutet, dass er ein ums andere Mal mit dem Kopf durch die Wand will oder muss. Ein Sturkopf, dem es schwerfällt, sich Neuem zu öffnen. Und so haben sein junger Assistent Ferdinand Winter und Sandor Adler, der "Irrenarzt", wie Emmerich ihn nennt, ihre liebe Not mit dem Kommissar und alle Hände voll zu tun, ihn das ein oder andere Mal vor sich selbst zu retten.
Alex Beer hat ein stimmungsvolles, lebendiges und spannendes Buch abgeliefert, das eine bewegte und aufregende Zeit beleuchtet, in der sich – wie wir heute wissen – die Welt auf dem Weg vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg befand. Dringende Leseempfehlung!