Mein Europa: Der lange Schatten des Krieges
DW
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Die Menschen in der Republik Moldau sind verunsichert. Der Schrecken der ersten Tage hat sich in ein Gefühl starrer Angst verwandelt, meint der moldauische Schriftsteller Vitalie Ciobanu.
Ich hätte nie gedacht, dass ich im Alter von 58 Jahren, wenn der Großteil meines Lebens hinter mir liegt und ich noch so viele unvollendete Projekte habe, dem reinen Horror gegenüberstehen würde: dem Krieg.
Es war der 24. Februar 2022. Um 5 Uhr morgens hatte Russlands Aggression gegen die Ukraine begonnen, und ich verstand, dass alles, absolut alles, für mich, meine Familie und mein Volk enden könnte. Dass alles, was wir geträumt, geschaffen und erhofft haben, sich in Staub verwandeln kann. Denn eines war mir, war uns sofort klar: Wenn die Ukraine fällt, wird die Republik Moldau an der Reihe sein, denn sie hat keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Als ein "neutraler Staat" mit russischen Truppen in der separatistischen Region Transnistrien wäre sie Russland ausgeliefert, niemand würde ihr zur Seite stehen. Die russische Armee hätte ein leichtes Spiel, die Moldau zu überrollen und in wenigen Stunden den Pruth zu erreichen, die Grenze zur NATO und zur Europäischen Union.
Wir, die Moldauer diesseits des Flusses Pruth, haben diese Katastrophe schon einmal erlebt. Am 28. Juni 1940 wurden Bessarabien und die nördliche Bukowina, die zu Rumänien gehörten, von den Sowjets besetzt. Auch die baltischen Staaten ereilte damals das gleiche Schicksal, nachdem Polen ein halbes Jahr zuvor aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Pakts unter Hitler und Stalin aufgeteilt worden war. Es folgten Massenmorde, Deportationen von rund 300.000 Menschen nach Sibirien (in mehreren aufeinanderfolgenden Wellen), die organisierte Hungersnot von 1946-47 (ähnlich dem "modus operandi" des ukrainischen Holodomor), die Zerstörung der nationalen Kultur, eine erbitterte Politik der Russifizierung.
Im gegenwärtigen Krieg haben wir die Massaker in Butscha, Irpin, Charkiw, Isjum, Mariupol und in jüngerer Zeit in Soledar und Bachmut gesehen. Wir haben gesehen, was russische Truppen anzurichten im Stande sind. Sie werden keine Gnade haben, wenn sie in der Moldau einfallen, sie haben eine lange, tausendjährige Tradition der Grausamkeit und Tyrannei.
Es ist erstaunlich, im 21. Jahrhundert in Europa eine Barbarei wie im tiefsten Mittelalter wiederzubeleben. Die Ausbreitung der Demokratie, die technologische Entwicklung, die Lehren der Geschichte waren offensichtlich nutzlos. In Russland kochen militaristische Psychosen über, antiwestliche Diskurse, der Hass auf das Andere, Ekel und Abneigung gegen die Freiheit der Völker. Die immense Frustration eines untergegangenen Imperiums hat, völlig benommen von einem messianischen Hype, die Ressentiments eines Regimes, das den globalen Wettbewerb verloren hat, in eine Politik der Jagd auf seine Nachbarn umgewandelt. Moskau droht mit einem nuklearen Armageddon, "weil eine Welt ohne Russland keinen Sinn hat, zu existieren!" - so tönt es aus dem Mund Putins und der russischen Propagandisten. Der Kremlchef will seinen Willen mit Terror durchsetzen, und wo es ihm nicht mit Gewalt gelingt, tut er dies, indem er die vitalen Instinkte der Nationen korrumpiert und lähmt.