Kampf um die EU
Frankfurter Rundschau
Die Zeit, in der Europa überall auf dem Kontinent neu gegründet werden muss, ist – jetzt.
Stettin, 1. Mai 2004. Es ist ein sonniger, warmer Frühlingstag, an dem Polen und neun weitere osteuropäische Staaten der EU beitreten. Die Stadt wirkt leer und sonntagsschläfrig, von Feierlichkeiten nichts zu spüren. Die Straßenbahnen wenigstens sind geschmückt wie bei Volksfesten. Mit zwei kleinen Fähnchen über dem Führerhaus rattern sie durch die Straßen. Europafähnchen? Weit gefehlt. Durchweg Weiß-Rot, die polnischen Farben.
Aus Westperspektive ist das rückblickend denkwürdig. Das ziemlich wenig unabhängige polnische Verfassungsgericht hat es gerade nochmal quittiert: Für den mainstreamigen Rechtspopulismus im Land war die Zugehörigkeit zu EU-Europa vom ersten Tag an eher ein nationales Ereignis. Teil einer nationalen Befreiung geradezu, die von nun an abgesichert sein sollte durch Nato und Europäische Union.
Interessenssicherung vor allem in der riesigen Geldverteilmaschine, die EU-Europa darstellt. Gerade nicht Übergang in etwas Neues, Größeres. Im Europaparlament hat das der polnische Regierungschef diese Woche mit aller zynischen Chuzpe ausgesprochen. Es wird Zeit, diese bittere Wahrheit nicht länger zu verklären: Da, wo vorher die innereuropäische Systemgrenze verlief, gibt es bis heute eine politische Kulturgrenze. Auf ihrer östlichen Seite wird von manchen manches anders empfunden.