Im Labor der Pharmaindustrie: Sylvia Wagner über Heimkinder
Frankfurter Rundschau
Sylvia Wagner hat Arzneimittelversuche in Heimen bekannt gemacht. In dem Roman „Heimgesperrt“ erzählt sie ihre Geschichte und die vieler anderer Kinder.
Dadurch, dass ich meine Mutter nicht kannte, war sie stets präsent. Wenn ich nahe bei einer Frau stand, fragte ich mich, ob die Haare meiner Mutter genauso riechen würden. Wenn ich aß, fragte ich mich, ob die Suppe meiner Mutter genauso schmecken würde. Wenn jemand sprach, fragte ich mich, ob die Stimme meiner Mutter genauso klingen würde. Wenn jemand mit mir schimpfte, fragte ich mich, ob meine Mutter auch so mit mir schimpfen würde. Wenn ich in den Spiegel schaute, fragte ich mich, ob meine Mutter mich ansah.
Nur häppchenweise landeten Hinweise über meine Herkunft bei mir. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, besuchte mich regelmäßig einmal im Jahr. Erst im Heim und dann in der Pflegefamilie. Sie war die einzige Verwandte, die ich als Kind kannte, und sie schien jedes Mal aus einer anderen Welt aufzutauchen. Und genauso verschwand sie jedes Mal wieder nach wenigen Stunden.
Meistens ging sie mit mir in ein Café, in dem hauptsächlich alte Damen vor ihren Kaffeetassen und großen Tortenstücken saßen. Ich wusste nie, was ich ihr sagen sollte. Oft betrachtete ich einfach den Dutt auf ihrem Kopf und fragte mich, wie sie den machte. Nicht ein einziges Mal war ich bei ihr zu Hause. Bei ihrem letzten Besuch, ich war dreizehn, erwähnte sie, dass ich eine Schwester habe. „Sie heißt Ruth und ist fünf Jahre älter als du. Sie wohnt gar nicht weit weg von mir in einem Heim.“
Noch nie hatte mir jemand von dieser Schwester erzählt, und auch jetzt war es alles, was ich bekam. Ich fragte nicht nach weiteren Häppchen. Wenige Zeit nach diesem Besuch, ich kam aus der Schule, saß Frau Fischer, die Frau vom Jugendamt, mit meiner Pflegemutter bei uns in der Küche. Es war kein regulärer Termin, der vorige Besuch war noch nicht so lange her, und normalerweise kam Frau Fischer nachmittags, wenn ich schon längst aus der Schule war. Sie wollte immer nur mein Bestes, aber ich hatte keine Lust auf sie.
Nach einem kurzen „Hallo, Hannah!“ blickten die beiden Frauen auf den Tisch. Es lag nur ein Brief darauf, sonst nichts. Ein Brief mit einem schwarzen Rand. Mein Name stand darauf. Und die Adresse vom Jugendamt. Der obere Rand des Umschlags war ausgefranst. Sie hatten meinen Brief geöffnet. „Deine Oma ist gestorben“, sagte meine Pflegemutter. „Hmmm“, sagte ich. Wenn ich schon mit den beiden einzeln nie sprach, konnten sie auch in dieser Situation nicht erwarten, dass ich mit ihnen sprechen würde.