Der Arktische Ozean nagt an Kanada - Eismeer-Küsten erodieren
Frankfurter Rundschau
In Kanada lässt der Klimawandel den Permafrostboden auftauen – für die Arktis-Gemeinde Tuktoyaktuk geht es um die Existenz.
Tuktoyaktuk – Wenn Bürgermeister Erwin Elias durch seine Gemeinde geht, hat er den Arktischen Ozean stets in Blickweite – als offenes Meer oder schier endlose schneebedeckte Eisfläche. Der Ozean prägt das Leben in Tuktoyaktuk an der kanadischen Arktisküste. Aber er bedroht auch seine Zukunft. Das Meer nagt an der Küste. Der Klimawandel fördert das Auftauen des Permafrostbodens, macht die Küsten instabil und beschleunigt ihre Erosion. „Unsere ganze Gemeinde ist bedroht. Wir sehen die Erosion, wir verlieren Land“, lautet Elias’ Botschaft.
Es ist ein eisiger, aber sonniger Tag. In einen dicken, blauen Parka gekleidet steigt ein besonderer Gast aus dem Flugzeug, das auf der schneebedeckten Piste der knapp 1000 Einwohner:innen zählenden Gemeinde gelandet ist: der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Ehefrau Elke Büdenbender, die sich hier ein Bild über die Folgen des Klimawandels machen wollen. Sie kommen auf Einladung von Kanadas Generalgouverneurin Mary Simon. Sie ist die erste Inuk, die erste Angehörige eines indigenen Volks, die als Vertreterin von König Charles III, dem offiziellen Staatsoberhaupt, Kanadas höchstes Staatsamt bekleidet.
In der Inuit-Sprache Inuktitut heißt Tuktoyaktuk „wie ein Karibu“, weil einige Felsen in der Gegend wie Karibus aussehen soll. In Tuktoyaktuk, oft nur „Tuk“ genannt, ist Klimawandel so deutlich wie an nur wenigen Orten in der Arktis zu sehen. Immer wieder spülen in den wenigen Sommermonaten gewaltige Wellen des Arktischen Ozeans Erdmassen weg. Im August 2018 wütete ein ungewöhnlich starker Sturm über der Beaufort-See. An einem Tag wurden 7200 Kubikmeter Erde weggerissen – fast so viel wie sonst in einem ganzen Jahr. Häuser sind vom Absturz in den Ozean bedroht und müssen umgesiedelt werden. Vor einigen Jahren fiel die Curling-Arena in den Ozean und die Menschen in Tuk befürchten, dass auch der Friedhof, der direkt an der Küste liegt, Opfer der Küstenerosion werden könnte.
„Wir sehen den Klimawandel. Er ist real“, sagt Elias. „Tuk“ liegt auf einer Landzunge, die in den Arktischen Ozean hineinragt. Vor 20 Jahren wurden Betonklötze nach Tuktoyaktuk gebracht, die als Wellenbrecher dienen und die Küste befestigen sollten. Aber das reicht nicht mehr. Ryan Yakeleyas Haus liegt nur noch wenige Meter von der Küste entfernt. Im vergangenen Sommer seien binnen weniger Tage zehn Meter Küste weggespült worden, erzählt er. „Jetzt muss ich mich fragen, wie lange ich noch bleiben kann.“
An der Küstenlinie in arktischen Dauerfrostgebieten sind deutliche, durch Klimawandel geförderte Veränderungen zu beobachten. Permafrostboden ist Boden, der für mindestens zwei Jahre in Folge gefroren ist. Nur die oberste Schicht taut im Sommer auf, darunter beginnt permanent gefrorenes Erdreich. Ein Viertel der nördlichen Hemisphäre ist Permafrostgebiet. Es ist ein großes Gebiet rund um den Polarkreis, in dem rund fünf Millionen Menschen in etwa 1000 Gemeinden und Städten leben. Aber an vielen Stellen taut der Boden tiefer auf, wird instabil und das Ökosystem verändert sich. Hugues Lantuit, Permafrostforscher beim Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, der seit Jahren auf der Herschel-Insel zusammen mit den Inuit das Auftauen des Bodens und die Küstenerosion studiert: „Permafrost zementiert die Küste. Wenn er taut, verliert der Boden seine Konsistenz und wird weggespült“.