
Warum wir so gern über Quatsch debattieren
n-tv
Europa steht an der Schwelle zum Krieg, aber Deutschland redet über Pullis und die korrekte Anrede von Annalena Baerbock. Doch die Beschäftigung mit vermeintlichen Oberflächlichkeiten ist zutiefst menschlich - und kann Politikern Orientierungspunkte geben.
Die Physik der Öffentlichkeit scheint bisweilen verrückt zu sein: je finsterer die Lage, desto banaler die Gesprächsthemen. In dieser Woche debattierten wir über Kleidungsstücke, Tanzeinlagen zum Thema Abtreibungen und einen gewaltigen russischen Tisch. Warum bloß?
Es liegt jedenfalls auch an einem Erkenntnisdefizit an anderer Stelle: Niemand weiß so recht, was Wladimir Putin gerade umtreibt, und noch weniger wissen wir, wie der neue Bundeskanzler tickt. Am Kamin lässt Olaf Scholz seinen Gastgeber Joe Biden mit dem Aus der Nordsee-Pipeline Nord Stream 2 drohen, er selbst jedoch vermeidet das Wort als wäre es "Candyman" in der gleichnamigen Horrorgeschichte: Wer dessen Namen fünfmal spricht, wird von einem hakenbewehrten Monster heimgesucht. Stattdessen sagt Scholz sinngemäß: "Ja, was Joe sagt!" Und nickt schlumpfig.
Daher suchte sich die Öffentlichkeit ein greifbareres, menschlicheres, kuscheligeres Thema: seinen Pullover. Den trug Scholz, Sie haben das vermutlich gesehen, auf seinem Flug Richtung Washington und sogleich griffen die zwei Gesetze digitaler Kommunikationsphysik: Erstens, man machte sich herzlich darüber lustig, immer und immer und immer wieder. Zweitens, man empörte sich über dieses Lustigmachen. "Haben wir nichts Wichtigeres zu besprechen", war der Tenor jener Meta-Kritiker, manchmal vermixt mit Menschelei ("ist doch bequem!") oder, für Fortgeschrittene, mit Kennertum ("So ist das auf Langstreckenflügen!").
