
Toni Kroos: So emotional streitet Deutschland über sein rätselhaftes Fußball Phänomen
RTL
Für die einen ist es ein nervtötendes Quergeschiebe, für die anderen sind es die cleversten Pässe der Welt. Toni Kroos polarisiert. Und das nicht nur wegen...
Für die einen ist es ein nervtötendes Quergeschiebe, für die anderen sind es die cleversten Pässe der Welt. Toni Kroos polarisiert. Und das nicht nur wegen seines abgebrochenen Wut-Interviews im ZDF am Samstagabend, das eine ganze Nation aus der Lethargie eines wenig spektakulären Finalspiels aufscheuchte. Er ist nach Mesut Özil wohl der am emotionalsten diskutierte Nationalspieler der herausragenden Generation, die 2014 in Brasilien Weltmeister geworden war, und nun immer mehr aus dem Fokus rückt. Durchaus amüsant: So groß die Emotionalität in der Bewertung von Kroos ist, so kühl gibt sich der gebürtige Greifswalder als Profi, so abgezockt ist sein Spiel. Und seit Jahren so unfassbar erfolgreich.
Als sein Team, die Könglichen von Real Madrid, im Stade de France von Paris den wichtigsten Vereinswettbewerb wieder mal für sich entschieden hatte, auf glückliche Weise mit 1:0 gegen den FC Liverpool, da wurden die Einzelkritiken formuliert. Ein Klassiker im Sportjournalismus. Eine beliebte Kategorie bei Fans. Eine, die den großen Stoff für die leidenschaftliche Aufarbeitung liefert. Kroos galt manchen Experten als bester Mann bei Real. Die französische Sportzeitung "L'Equipe" sah ihn dagegen als schlechtesten Spieler seines Teams. Und neben Liverpools Luis Diaz als schwächsten Mann auf dem Feld. Die Statistiken geben das nicht her. Die Passquote war überragend, die Zahl der Ballaktionen höher als bei jedem seiner Teamkollegen.
Aber was sind schon Statistiken! Fußball ist Emotion, nicht schnödes Zahlenwerk (bloß im Ergebnis). Wenn einer darüber etwas zu erzählen weiß, dann ist es Özil. Wobei sich dessen Bewertung ja allzu oft mit dem Fremdeln vor seinen türkischen Wurzeln vermischte. Der legendäre Cristiano Ronaldo konnte noch so häufig wiederholen, dass er kaum einen Mitspieler je mehr schätzte als Özil. In seiner deutschen Heimat verfing sich das nicht. Und wird es nicht mehr tun. Zu vergiftet ist die Atmosphäre um den Spielmacher wegen seiner Nähe zum international kritisch betrachten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner Abrechnung mit dem DFB. Zu kaputt seine Karriere, die nach seinem Rauswurf bei Fenerbahce vielleicht schon beendet ist. Wie seltsam das wäre.
Bei Kroos ist die Sache emotional anders gelagert. An dem Menschen Toni Kroos arbeitet sich kaum jemand ab. Wohl aber an seinem Spiel, dass er strategisch von der Achter-Position orchestriert. Kroos tut das mit seinem Gespür für die Bedürfnisse der Mannschaft. Er ist dabei allerdings auch immer im Korsett der taktischen Vorgaben des Trainers gefangen. In Madrid gelingt ihm das perfekt. Weder Klub-Ikone Zinedine Zidane noch der unsterbliche Carlo Ancelotti und erst recht nicht der ewige Bundestrainer Joachim Löw hegten je den Hauch eines öffentlichen Zweifels, dass der Spielgestalter nicht mehr den Anforderungen des modernen Fußballs genügt. Die souveräne Meisterschaft in der spanischen Liga und der Triumph in der Königsklasse sind statistisch nicht anzweifelbare Belege. Kroos ist unumstrittener Stammspieler.
Doch es gibt auch das Team "Uli Hoeneß". Das Team also, das in dem 32-Jährigen seit Jahren nur noch einen nervtötenden Querpass-Spieler sieht, einen Mitläufer. Hoeneß, dessen Sätze in der Fußballrepublik Deutschland mehr Gehör haben, als alles andere, was gesprochen wird, sagte vergangenes Jahr, nach der nicht erfolgreichen Europameisterschaft: "Ich mag den Toni extrem. Aber seine Art zu spielen ist total vorbei. Bei der ganzen EM habe ich keinen Spieler gesehen, der so einen Fußball spielt." Ein vernichtender Abgesang in schönem Kleid.
Für Deutschland spielt Kroos nicht mehr. Vielleicht auch, weil er es satthatte, sich ständig anhören zu müssen, dass es mit anderen Spielern im Mittelfeld doch sicher sehr viel besser laufen würde. Joshua Kimmich gilt als galliger, als leidenschaftlicher. Leon Goretzka als viel dynamischer. Thomas Müller als unverzichtbarer. Jamal Musiala und Florian Wirtz als Zauberer der Zukunft. Hymnen wurden auf sie gesungen, während sich Kroos eben nur noch Abgesänge anhören durfte. Bei allen Erfolgen, Weltmeister, sechs Meisterschaften mit Real und dem FC Bayern, fünf Triumphe in der Champions League (die komplette Liste der Titel finden Sie hier) war er bestenfalls sporadisch ein deutscher Fußball-Held.
Dass er eines seiner bekanntesten Tore beim WM-Debakel 2018 schoss, als er Deutschland mit seinem Last-Minute-Freistoß gegen Schweden wenigstens kurzfristig im Turnier hielt, ist irgendwie eine ebenso bittere wie passende Pointe im Ringen um die verdiente Bestätigung aus seiner Heimat. Es geht dabei nicht mal um Liebe und Zuneigung. "Besser in Deutschland umstritten und weltweite Anerkennung als andersrum", sagte Kroos einmal über sein Image in der Heimat. Ein Satz, in den sich verdammt viel Bitterkeit hineininterpretieren lässt. Kroos erzählt keine Gaudbursch-Geschichte wie Müller, keine Lieblingsnachbar-Story wie einst Jérôme Boateng. Er ist kein Gladiator wie Bastian Schweinsteiger im WM-Finale 2014 gegen Argentinien, kein Heldengrätscher wie Mats Hummels und keine Fan-Ikone wie der launige Lukas Podolski.
Kroos ist eben Kroos, ein kühler Stratege. Der sich allerdings auch mit den Jahren gewandelt hat. Mit seiner Personality-Doku eröffnete er die unbekannte Seite als nahbarer Familienmensch. Mit seinen erst später in der Karriere gestochenen Tattoos gab er sich etwas eher Rebellisches, was das Brave konterkarieren sollte. Im Podcast und Social-Media-Duell mit Bruder Felix gibt er den Entertainer. Diese Transformation ist sicher auch ein Teil seines Kampfs um Anerkennung.
