Tanzen im Krieg: Die ukrainische Musikszene lebt weiter
DW
Trotz Raketenbeschuss und Stromausfall lässt sich die Musikszene in Kiew nicht unterkriegen. Und im Rest Europas organisiert ein Kulturveranstalter Konzerte mit ukrainischen Bands, um Spenden für die Heimat zu sammeln.
Sängerin Ganna Nikitina trägt einen roten Ganzkörperanzug, auch ihr Gesicht ist bedeckt - das Outfit ist ihr Markenzeichen. Zum ersten Mal steht sie mit ihrer ukrainischen Elektropunk-Band Ragapop auf einer belgischen Bühne. In normalen Zeiten wäre wohl keine Einladung aus Brüssel gekommen. Aber es sind keine normalen Zeiten. Es herrscht Krieg in Nikitinas Heimat, und Europa zeigt sich solidarisch mit dem von Russland überfallenen Land. Den Kontakt zu dem belgischen Musikclub hat Vlad Yaremchuk hergestellt; vor dem 24. Februar 2022 organisierte er das größte Musikfestival der Ukraine. Jetzt fragt er Konzerte im Ausland an, der Erlös geht an die Initiative "Music saves Ukraine".
Ohne die Expertise von Kulturschaffenden vor Ort wie Vlad Yaremchuk wäre das Line-Up im Brüsseler Konzertsaals Ancienne Belgique nie zustande gekommen, sagt Geschäftsführer Tom Bonte. "Woher sollen wir in Belgien wissen, was aktuell in der Musikszene von Kiew los ist?"
Doch nicht nur im Ausland ist die Szene jetzt aktiv, auch in der Ukraine zeigt sie sich noch quicklebendig: man habe sich der neuen Realität angepasst, sagt Yaremchuk. "Eine humanitäre Krise zu händeln sei eigentlich gar nicht so anders, als sich um ein Festival zu kümmern. Leute aus der Musikbranche wurden zu Freiwilligen, genauso wie jedes Konzert zur Spendenveranstaltung wurde. Weil Russland gezielt die kritische Infrastruktur des Landes bombardiert, geht in den Konzertsälen immer mal wieder das Licht aus. Doch die Menschen wissen sich zu helfen, so Yaremchuk: "Wenn der Strom ausfällt, dauert es zwei Minuten. Ein Generator wird angeschlossen, und das Konzert geht weiter." Bei Fliegeralarm geht es ab in den Luftschutzbunker, dann zurück auf die Tanzfläche.
Am Anfang des Krieges war allerdings nicht an Musik zu denken, so Anton Ocheretyanyy, Gitarrist bei Ragapop. Selbst über ein Jahr nach dem Beginn der russischen Invasion und seiner Flucht ins Ausland fehlt ihm noch manchmal die künstlerische Inspiration. "Aber man weiß auch, dass es Freunde gibt, die gerade in einer viel schlimmeren Situation sind und es trotzdem schaffen", sagt er. Ocheretyanyy kehrt mittlerweile regelmäßig in die Ukraine zurück, um dort aufzutreten.
Ragapop sind in der Heimat sehr populär. Vor Russlands Angriff füllten sie Konzerthallen in Mariupol oder Cherson. Nun stehen sie in Brüssel auf der Bühne - mittlerweile ohne ihren Tontechniker. Vlolodymyr Demchencko ist nach dem Auftritt der Band im Pariser Centre Pompidou an die Front zurückgekehrt.