Sie schultert die ganze Welt
Süddeutsche Zeitung
Ashleigh Barty gewinnt die Australian Open, weil sie unter großem Druck auf den erstaunlichsten Teil ihres Talents zurückgreift. Der Australierin ist nun ein Kunststück zuzutrauen, das zuletzt Steffi Graf gelang.
Wer einmal nachvollziehen wollte, wie es Atlas ging, als er einst die Welt schultern musste, der brauchte nur ins Gesicht von Tennisspielerin Ashleigh Barty zu schauen: zweiter Satz im Endspiel der Australian Open, ihrem Heimturnier, vor einem Publikum, das wie das gesamte Land nichts weniger erwartete als das Ende einer großen Titeldürre und jener hoch dotierten Quiz-Frage, wie denn die letzte australische Siegerin down under hieß. Chris O'Neil, die 1978 triumphierte, als weder Billie Jean King noch Martina Navratilova noch Chris Evert noch Virginia Wade die beschwerliche Reise zum fünften Kontinent antraten, saß im Publikum, brav mit Mundschutz, und sah, wie ihre Landsfrau unter der Last der Erwartungen strauchelte.
Sechseinhalb Partien lang war Barty durch das Turnier spaziert, scheinbar schwerelos, ihr ganzes Spiel ein einziges Lächeln, weil sie die Bälle so früh, so sauber und so variantenreich getroffen hatte. Nun schien das alles weit weg zu sein. Denn nach einem fast mühelos gewonnenem ersten Satz (6:3) lag die 25-Jährige plötzlich 1:5 zurück. Mit einer Reihe ungewohnter Fehler hatte sie ihre furchtlose Kontrahentin Danielle Collins zurück ins Match gelassen. Die 28-jährige US-Amerikanerin hämmerte nun wieder die Bälle mit ihrer beidhändigen Rückhand in die Ecken.
Ashleigh Barty erreicht in Melbourne mit ungebrochener Leichtigkeit das Endspiel und schickt sich an, erste einheimische Siegerin seit 1978 zu werden. Im Finale wartet allerdings die formstarke Danielle Collins. Von Milan Pavlovic
Trotzdem herrschte keinerlei Unruhe im Barty-Lager. "Ich war auf einen dritten Satz vorbereitet", sagte ihr Trainer Craig Tyzzer später, "aber ich war in diesen Minuten gar nicht so besorgt, es waren bloß Kleinigkeiten, und sie hatte ihren Touch etwas verloren, was auch damit zu tun hatte, dass es kühler war als in den anderen Night Sessions und die Bälle langsamer unterwegs waren", was Collins zugutegekommen sei. "Aber Ash mag Herausforderungen, deshalb war ich nicht nervös."
Als hätte sich diese Ruhe auf seine Spielerin übertragen, fand auch die Australierin schnell in die Spur zurück. "Ich habe Danielle zu sehr die Initiative überlassen und wollte einfach wieder versuchen, lockerer zu schwingen und aggressiver zu spielen", sagte Barty später, und je besser ihr das gelang, je mehr sie wieder die Initiative übernahm, desto mehr musste die Gegnerin zurückweichen und weiter hinter der Grundlinie spielen, einer Zone, die ihr weniger liegt. Re-Break zum 2:5, 3:5, Re-Break zum 4:5, und dann, als es bei 5:6 und 15:30 noch einmal eng zu werden drohte, zeigte die Frau aus Ipswich, nahe der australischen Gold Coast im Westen Australiens, noch einmal den erstaunlichsten Aspekt ihres Talents: die gerade einmal 1,66 Meter große Barty knallte Collins drei Service-Winner über 170 km/h ins Feld. 6:6 und Tie-Break, aber schon mit klarem psychologischem Vorteil für Barty. "Sie hat mir gezeigt, was ich noch verbessern muss", sagte Collins, die gewohnt verbissen auf dem Platz war, aber fair in der Niederlage, "vor allem hat sie in den entscheidenden Momenten ihr bestes Tennis gespielt. Und das muss ich noch lernen."