Roma in Italien: Die Engel von Arghillà
Frankfurter Rundschau
Das Roma-Viertel bei Reggio Calabria ist eine rechtsfreie Zone. In dem völlig heruntergekommenen Stadtteil sorgen nun Freiwillige für eine medizinische Grundversorgung. Vom Staat gibt es keine Hilfe.
Die Behörden hatten für Arghillà mal hochfliegende Pläne gehabt: Das Quartier sollte zum „Beverly Hills“ von Reggio Calabria werden, mit Villen, Parks, breiten Boulevards und edlen Restaurants. Auch Banken, Versicherungen und andere Finanzdienstleistungen sollten dort hin, und außerdem ein Campus der Universität. Von der Lage her war die Idee auch bestechend: Arghillà befindet sich auf einer natürlichen Terrasse am nördlichen Stadtrand von Reggio Calabria mit einem grandiosen Blick auf die Meerenge von Messina, auf das gegenüberliegende Sizilien und auf den derzeit eingeschneiten, rauchenden Ätna. Selbst in Italien gibt es nur wenige Orte mit einem derart spektakulären Panorama.
Der Traum ist aber geplatzt, wie so oft im armen und von Rom vernachlässigten Kalabrien. Statt der Villen wurden Anfang der 70er Jahre öde Wohnblocks mit Sozialwohnungen hochgezogen. Deren Bauqualität war von Anfang an dürftig, und aufgebessert wurden die Gebäude in der Folge auch nie. Nach etwa 30 Jahren waren die Blocks derart marode, dass die dort Wohnenden von der Stadtregierung von Reggio Calabria umgesiedelt wurden. An ihrer Stelle zogen vom Jahr 2001 an Angehörige der Roma-Minderheit ein. Heute leben etwa 1000 gemeldete Roma-Familien in dem Quartier, was etwa 4000 Personen entspricht. Wie viele es genau sind, weiß niemand mit Sicherheit: Viele sind nicht gemeldet, oft werden Strom-, Gas- und Wasserrechnungen nicht bezahlt. Neben den Romnja und Roma leben schätzungsweise 2000 weitere Menschen in Arghillà.
Viele Gebäude sind einsturzgefährdet, in den mit Schlaglöchern übersäten Straßen türmen sich zum Teil meterhohe Müllberge. „Die Situation ist katastrophal“, sagt der Mediziner Giancarlo Biazzo. „Die Kinder gehen kaum zur Schule, zwölf- und 13-jährige Mädchen werden schwanger, fast alle ,ragazzi‘ (Jungs, Anm. d. Red.) rauchen und konsumieren Drogen.“ Die meisten Roma-Familien lebten vom Grundeinkommen und vom Kindergeld – oder auch von Kleinkriminalität wie Diebstahl und Prostitution. Die Menschen werden von den Behörden sich selbst überlassen: „Der Staat hat sich abgemeldet aus Arghillà, man sieht kaum je einen Polizisten oder einen Carabiniere.“ Wenn Kalabrien an der Südspitze Italiens – nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial – Peripherie ist, dann ist Arghillà die Peripherie dieser Peripherie.