Raum zum Erzählen - und zum Schweigen
Süddeutsche Zeitung
Mit der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens hat die Erzdiözese München und Freising eine telefonische Beratungsstelle für Betroffene eingerichtet. Knapp 80 Menschen haben sich dort bisher gemeldet. Doch manche können erstmal gar nichts sagen.
Manche wählen die Nummer und schweigen erstmal, sobald die Verbindung steht, "sie bedürfen viel Wertschätzung, bis sie sich öffnen". Andere reden gleich drauf los, haben klare Fragen. Und es gibt auch Anruferinnen und Anrufer, die "viel Raum zum Erzählen brauchen". 77 Menschen haben sich zwischen dem 20. Januar, dem Tag der Veröffentlichung des Gutachtens über sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising, und Ende vergangener Woche bei der Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene gemeldet, wie eine Sprecherin des Ordinariats berichtet.
"Es waren zum Teil Betroffene, zum Teil Menschen, die mit der Frage nach einem Kirchenaustritt ringen oder mit der Kirche und den aktuellen Vorgängen ein Problem haben, zum Beispiel wegen der Rolle des emeritierten Papstes." Andere hätten Vorgänge in ihren Pfarreien zur Sprache gebracht, die ganz andere Themen beträfen. "Die Gespräche sind selbstverständlich absolut vertraulich und Anrufende können sich auch anonym an die Anlauf- und Beratungsstelle wenden."
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Noch bevor die Gutachter der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl vor über zwei Wochen bei einer Pressekonferenz anhoben, ihre Untersuchungen zum Missbrauch in den Jahren 1945 bis 2019 als "Bilanz des Schreckens" vorzustellen, wurde vom Podium aus die Nummer einer eben freigeschalteten Betroffenen-Hotline der Erzdiözese bekannt gemacht. Von Montagmorgen bis Samstagabend sind hier seither bis zu sechs erfahrene Psychologen und Psychotherapeuten aus den Beratungsdiensten der Erzdiözese erreichbar. Sie sollen Betroffenen die Möglichkeit geben, davon zu erzählen, wie ihnen in den Mauern der katholischen Kirche Leid angetan wurde, sich emotional zu entlasten.
Der Anschluss ist gleichermaßen für Angehörige gedacht; auch die können sich hier niederschwellig Rat und Hilfe holen. Die Fachleute übernehmen eine Lotsenfunktion zu weiteren Unterstützungsangeboten, unabhängigen Ansprechpartnern und nicht kirchlichen Beratungsstellen. Denn was für viele Opfer wesentlich ist: Sie wollen sich nie wieder jemandem anvertrauen, der in der Institution arbeitet, in der sie an Leib und Seele verletzt worden sind.