Olga Tokarczuk: „Übungen im Fremdsein“ – Machen wir doch einen Schritt zur Seite
Frankfurter Rundschau
Die Bausubstanz des literarischen Schreibens: In ihrem Essay-Band „Übungen im Fremdsein“ legt Olga Tokarczuk Geheimnisse und Möglichkeiten der Inspiration offen.
Es ist keine leichte Zeit in Polen, vielmehr eine bleiern schwere. Das Land wird von Nationalisten regiert, die immer autoritärer agieren, gegen Flüchtlinge agitieren, Freund-Feind-Schemata befeuern. Dieses dürfte ebenso schwer auf Olga Tokarczuk lasten, die sich auch jenseits des Literaturbetriebs stets in Belange des Landes einbringt. „Polen sollte so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie es tragen kann“, sagte sie jüngst angesichts der Abschiebepraxis der Warschauer Regierung an der polnisch-weißrussischen Grenze.
In Tokarczuks nun auf Deutsch erschienenem Band geht es zwar nicht in erster Linie um Politisches. Die Gewinnerin des 2019 verliehenen Literaturnobelpreises 2018 befasst sich in den zwölf Essays und Reden in erster Linie mit den biografischen, soziologisch-sachlichen, psychologischen und auch mythischen Quellen des literarischen Schöpfungsprozesses. Doch im Hintergrund schwingen Reflexionen zum Politischen mit, eingefärbt durch den Kontext: das Pandemie-Jahr 2020.
Um sich diesem Großereignis zu nähern, das in jenem Jahr wie ein „Schwarzer Schwan“ aufgetaucht sei, ermuntert Tokarczuk gleich zu Beginn mit der „Ognosie“ zu einer Standortverschiebung, einer Bewegung weg vom Denken im Zentrum. Unter den vielen Folgen der Pandemie sieht sie die wichtigste darin, „dass das tief verinnerlichte Narrativ vom Menschen als Herrn der Schöpfung, der Kontrolle über die ganze Welt besitzt, einen Bruch erfahren hat“. Was also, wenn „wir einen Schritt zur Seite machten, (...) die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verließen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben, die alle um ein gemeinsames Zentrum kreisen?“ Die Gelegenheit, diese „Exzentrik“ zu wagen, sei hier und jetzt da – als „kairotischer Augenblick“, anknüpfend an den griechischen Kairos, „Gott der Gelegenheit, des flüchtigen Moments, der unfassbaren Möglichkeit“, die am Schopfe zu packen sei.