Nicht nur für Kinder: Warum Märchen heute boomen
DW
In Dänemark wurde das Hans Christian Andersen-Museum neu eröffnet, weltweit stürmen Märchen die Kinokassen und Bestsellerlisten. Warum wir heute so märchenhungrig sind.
Noch vor sieben Jahre stand an der malerischen Straßenecke in der dänischen Kleinstadt Odense nur ein unscheinbares, einstöckiges gelbes Haus: das Geburtshaus eines der berühmtesten Märchenautoren der Welt, Hans Christian Andersen. Vor über 200 Jahren, im Jahr 1805, wurde Andersen in Odense in die Armut hineingeboren. Als Sohn eines frühverstorbenen Schusters und einer Wäscherin, die weder lesen noch schreiben konnte, war sein Aufstieg zum Weltstar der Märchenerzählenden nicht vorherzusehen.
Heute kennen seine Geschichten jedes Kind und die meisten Erwachsenen, vom "Hässlichen Entlein" über "Des Kaisers Neue Kleider" bis hin zur "Schneekönigin", der zuletzt von der Walt Disney Corporation in zwei Animationsfilmen unter dem Titel "Die Eiskönigin" (Englisch: "Frozen") zu weltweitem kommerziellen Ruhm verholfen wurde.
Sein Geburtshaus in Odense liegt inzwischen in einem wohlhabenden Viertel und dient seit 1930 als Hans Christian Andersen-Museum. Aber seit 2014 hat sich das Museum grundlegend verändert: Um- und neugebaut vom japanischen Architekten Kengo Kuma, dessen Büro sich auch für das neue Olympiastadion in Tokyo verantwortlich zeigte, ist das historische "Hans Christian Andersen Husen" seit 2021 der Eingang in eine ober- und unterirdische Märchenwelt. Ein großzügiger neuer Museumsbau und -garten sind hinzugefügt worden, in den Ausstellungsräumen über und unter der Erde können die Gäste in die geliebten Geschichten aus der Kindheit eintauchen. "Wir hatten das Gefühl, dass die Gäste im alten Museum noch etwas mehr wollten als ein traditionelles Geburtshaus-Museum", erklärt die Museumsmitarbeiterin Lone Weidemann. "Die Menschen wollten seine Märchen, denn das ist das, was sie kennen. Sie brauchen seine Fantasie und Inspiration für ihren Alltag."
Man könnte aktuell von einem "Märchen-Boom" sprechen: Zahllose Filme, Videospiele und Romane sind in den letzten Jahren erschienen, die bekannte Märchen der europäischen Märchenerzähler aus dem 19. Jahrhundert neu erzählen. In Disneys "Maleficient" (2014) wurde die "Böse Fee" aus dem Grimmschen Märchen "Dornröschen" auf einmal zur Heldin, dargestellt von Hollywoodstar Angelina Jolie. Die japanisch-amerikanische Autorin Elizabeth Lim kombinierte in "Six Crimson Cranes" (2021) das Andersen-Märchen "Die Wilden Schwäne" mit ostasiatischen Märchenmotiven und erschuf einen US-amerikanischen Bestseller. Auch in Deutschland erklimmen Neuerzählungen bekannter Stoffe regelmäßig die Bestsellerlisten, so zum Beispiel die Romane der Autorin Christina Henry.
"Boom" sei aber der falsche Ausdruck, so der deutsche Autor, Herausgeber und Märchenexperte Christian Handel im Telefongespräch mit der DW. Denn: "Märchen gehen nie weg." Schon die uns so bekannten europäischen Märchen wie "Schneewittchen" der Gebrüder Grimm, "Aschenputtel" von Charles Perrault oder "Die Prinzessin auf der Erbse" von Hans Christian Andersen beruhen auf viel älteren Quellen und Motiven, erklärt Handel - die meisten davon übrigens schriftlich. Der Mythos, dass die Gebrüder Grimm alte "deutsche" Volksmärchen, die vor allen Dingen mündlich überliefert wurden, gesammelt und aufgeschrieben hätten, ist eben das: ein Mythos.