Montenegros Obama will sein Land säubern
DW
Der neue montenegrinische Premier Dritan Abazovic ist in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmepolitiker in der Westbalkan-Region. Doch ob er seine ambitionierten Reformvorhaben umsetzen kann, ist fraglich.
In Südosteuropa sind in den vergangenen Jahrzehnten wie in kaum einer anderen Region des Kontinents immer wieder Außenseiter und Quereinsteiger in politische Spitzenämter gekommen. Oft genug scheiterten sie - nicht vielen gelang es, sich politisch langfristig zu etablieren. Ein Ausdruck dafür, wie fragil die Verhältnisse in den Ländern der Region sind, wie groß ihr Bedarf an Veränderung ist, wie viele Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen die Menschen dort in sich tragen.
Auch Montenegro, mit seinen gut 600.000 Einwohnern das kleinste Land der Westbalkan-Region, erlebt seit einiger Zeit den Aufstieg eines Außenseiters zu einer zentralen politischen Führungsfigur. Die Rede ist von Dritan Abazovic, unlängst noch ein wenig bekannter, junger Protestpolitiker - nun seit Ende April 2022 Ministerpräsident seines Heimatlandes. Er verspricht nichts weniger, als Montenegro von Korruption zu säubern, den Staat aus der jahrzehntealten Umklammerung durch die organisierte Kriminalität zu lösen und sein Land schnell in die EU zu führen.
Auf den ersten Blick scheint Dritan Abazovics Karriere nur ein weiteres Beispiel für jenes kometenhafte Aufstiegsszenario in Südosteuropa. Lange Zeit war der studierte Politikwissenschaftler Vorsitzender einer ökoliberalen Splitterpartei: der Vereinigten Reformaktion (URA). Vor knapp zwei Jahren ergab sich nach einer historischen Parlamentswahl für ihn und seine Partei die Chance, zum politischen Zünglein an der Waage zu werden. Abazovic nutzte sie geschickt und mit viel machttaktischem Gespür. Das katapultierte ihn nun an die Spitze seines Landes.
Dennoch ist der erst 36-Jährige in einer Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung in Südosteuropa: Er gehört zur albanischen Minderheit in Montenegro. Er ist damit der erste Politiker an der Spitze eines Westbalkan-Landes seit dem Zerfall Jugoslawiens, der einer ethnischen Minderheit angehört. Der montenegrinische Publizist und Direktor der Zeitung Vijesti, Zeljko Ivanovic, nennt ihn deshalb "Montenegros Obama".
Abazovic vertritt liberale, grüne und proeuropäische Positionen. Obwohl er seine ethnische Herkunft nicht verleugnet, legt er Wert darauf, ein "Bürgerpolitiker" zu sein - jemand, der ethnische und nationale Spannungen überwindet, indem er Recht, soziale Gerechtigkeit und bessere Lebensverhältnisse schafft, wie er im Gespräch mit der DW betont. "Es ist sehr gesund für Montenegro und für die gesamte Region, dass mit Abazovic jemand aus einer Minderheit der erste Premierminister eines Balkanlandes ist", sagt der Publizist Zeljko Ivanovic der DW.