Mit der Effizienz einer Eidechse
Süddeutsche Zeitung
Union Royale Saint-Gilloise krempelt den belgischen Fußball um. Der Aufsteiger aus der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles hängt die Großklubs FC Brügge und RSC Anderlecht ab - mit Spielern, die andernorts keiner wollte, und mit dem Geld eines sehr nervenstarken Investors.
Wie ein Märchenschloss des Fußballs wirkt das leere Stade Joseph Marien, wenn man sich vom angrenzenden Duden Park her nähert. Durch Büsche und Bäume hindurch erkennt man das in rotem Ziegel aufgemauerte Vereinsgebäude, das die Haupttribüne mit dem blauen Dach trägt. Man sieht gelbe und blaue Sitzschalen aufblitzen, die in Erdwälle eingelassen sind. Und mittendrin das satte Grün. Da wartet bestimmt eine Prinzessin darauf, wachgeküsst zu werden, denkt man auf den ersten Blick. Allein, die Prinzessin ist schon wachgeküsst - sogar von zwei Männern, einem englischen Pokerspieler namens Tony Bloom und dem deutsch-türkischen Stürmer Deniz Undav, den in der Bundesliga niemand haben wollte.
Der Wintertransfermarkt der Bundesliga ist so amüsant wie der Winter selbst. Während in England und Italien Spieler munter die Arbeitgeber wechseln, halten sich die deutschen Klubs in der Corona-Krise vornehm zurück. Kommentar von Philipp Selldorf
Die Royale Union Saint-Gilloise als Tabellenführerin der belgischen Liga: Ansichtssache, ob man das für ein Märchen hält oder nur für ein Beispiel, wie internationale Investoren die Fußballwelt regieren. In jedem Fall schreibt der Verein, der in der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles sein Zuhause hat, gerade eine der erstaunlichsten Geschichten des europäischen Vereinsfußballs. Er war Serienmeister in den 1930er-Jahren, danach in der Versenkung verschwunden, erst im Sommer 2021 wieder in die erste Liga aufgestiegen. Nun fliegen dem Verein die Herzen zu, und Scouts aus den großen Ligen Europas suchen im denkmalgeschützten Stade Joseph Marien nach Verstärkungen.
An diesem Sonntag feierte die Mannschaft ihren größten Sieg, 1:0 im Brüsseler Derby gegen den RSC Anderlecht. Die 5000 Fans im wegen Corona nur zur Hälfte gefüllten Stade Joseph Marien spielten schier verrückt. Zur Krönung fehlte nur ein Treffer von Deniz Undav, 25, der vor zwei Jahren noch beim Drittligisten SV Meppen spielte und in Brüssel zum Helden aufstieg. Als einziger Spieler ist er an der Stadionwand als Werbeträger des Vereins zu sehen. Gegen Anderlecht verbrauchte er alle seine Kraft, um gemeinsam mit seinen Teamkollegen den frühen Vorsprung durch ein Freistoßtor des Dänen Casper Nielsen zu verteidigen. Es gibt kein Team in der Liga, das mehr rennt als jenes aus Saint-Gilles.
Mit großem Vorsprung auf Titelverteidiger FC Brügge führt die Mannschaft die Tabelle an, Anderlecht hat 15 Punkte Rückstand. Die beiden Gemeinden der Hauptstadt liegen in unmittelbarer Nachbarschaft, aber fußballerisch trennten sie bis vor Kurzem Galaxien. Anderlecht, trainiert vom belgischen Idol Vincent Kompany, kriselte in den vergangenen Jahren sportlich wie finanziell, doch gilt die Mannschaft mit ihren 34 Meistertiteln immer noch als der FC Bayern des belgischen Fußballs. Und nun ist Saint-Gilles, vergleichsweise nicht mal 1860 München, vorbeigezogen.