Meinung: Wahlmotiv Angst bei der Präsidentenwahl in Chile
DW
Vor wenigen Monaten wäre ein Wahlsieg des Rechtspopulisten Kast noch undenkbar gewesen. Es zeigt, wie zerrissen das Land ist zwischen dem Wunsch nach Veränderung und der Sorge vor Unsicherheit, meint Emilia Rojas.
Die Vorwahl-Umfragen haben recht behalten: In Chile wird es eine zweite Runde bei den Präsidentschaftswahlen geben zwischen den beiden prognostizierten Kandidaten: dem linken Gabriel Boric und dem rechtspopulistischen José Antonio Kast. Dabei ist der Sieg des Letzteren, der weit am rechten Ende des politischen Spektrums steht, eigentlich überraschend in einem Land, das erst vor wenigen Monaten beschloss, sich eine neue Verfassung zu geben, die einen tiefgreifenden Wandel versprach und den Linken starken Auftrieb gab.
Wie erklärt sich nun dieser Ausschlag des Pendels in die entgegengesetzte politische Richtung? Zu nennen wäre das Versagen der politischen Klasse, die seit der Wiederherstellung der Demokratie im Lande an der Macht ist. Die traditionellen Parteien sind die großen Verlierer dieser Wahlen. Die Christdemokratin Yasna Provoste war das Gesicht des ehemaligen Mitte-Links-Bündnisses, das nach dem Ende der Diktatur lange Zeit regiert hat und dem es nicht gelang, das Korsett des von Pinochet auferlegten Wirtschaftsmodells abzustreifen. Ihr mageres Ergebnis in dieser Wahl ist die Quittung. Aber auch der konservative Sebastián Sichel, der Spitzenkandidat der Regierung, erlitt ein Desaster, das durch denpolitischen Absturz des Noch-Präsidenten Sebastian Piñera mitverursacht wurde. Ein Absturz, der die Konservativen entscheidend schwächte und den Kast nutzen konnte, um die Regierungspartei rechts zu überholen.