
Meinung: Selenskyj selbst ist das Problem, nicht seine Freunde
DW
Wolodymyr Selenskyj feuert mitten im Krieg führende Sicherheitsbeamte. Die öffentliche Schelte des ukrainischen Präsidenten kaschiert das eigentliche Problem: die mangelnden Reformen, meint Eugen Theise.
Die Absetzung von SBU-Geheimdienstchef Iwan Bakanow und der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa ist für die Ukraine ein mittelschweres politisches Erdbeben. Mitten in einem Krieg, wenn man von einer Regierung normalerweise maximale Konsolidierung erwartet, sieht ein solcher Schritt wie eine öffentliche Schelte gegenüber den engsten Vertrauten aus.
In seiner Videobotschaft am Montag sprach der Präsident zunächst von einer Suspendierung der beiden Behördenchefs. Gerügt hatte er lediglich die Tatsache, dass in beiden Behörden zu viele Beamte aus dem Osten und Süden des Landes Fahnenflucht begingen, nachdem die Regionen durch russische Truppen besetzt wurden.
Hatte womöglich der Krieg den Präsidenten zum Umdenken gezwungen, nachdem er sich in der Politik zunächst verstärkt mit Freunden und ehemaligen Geschäftspartnern umgab? Wohl kaum. Denn entschlossen sieht sein Durchgreifen nur auf den ersten Blick aus. Zunächst war lediglich von einer Suspendierung und nicht von einer Entlassung die Rede. Man wolle, hieß es aus dem Präsidialamt, Fälle von Hochverrat in beiden Behörden untersuchen. Dann aber ging es plötzlich Schlag auf Schlag: Bereits am Dienstag entließ das Parlament Bakanow und Wenediktowa auf Antrag von Selenskyj. Vor einer Untersuchung, wie sie noch am Vortag angekündigt wurde, war keine Rede mehr.
Das hin und her des Präsidenten in diesem merkwürdigen Personalpoker hinterlässt den Eindruck, dass der Ex-Komiker, der nach dem russischen Überfall auf sein Land über sich hinauswuchs und vor den Augen der Welt zu einem mutigen Anführer einer stolzen Nation wurde, sich plötzlich selbst verzwergte. Und zwar dann, wenn es darum ging, Verantwortung für die Versäumnisse seiner Vertrauten zu übernehmen.
Fälle von Hochverrat oder Fahnenflucht in den Sicherheitsbehörden wurden bereits in den ersten Wochen des Krieges bekannt. Der Präsident brauchte aber Monate, um darauf öffentlichkeitswirksam zu reagieren. Haarsträubend war beispielsweise der Fall des SBU-Generals Andrij Naumow, der sich am 23. Februar, genau einen Tag vor der russischen Invasion, ins Ausland absetzte.
