Holocaust: Überleben im Grab
DW
In einem Baum, unter einer Küche, in einem Grab auf dem Friedhof: Eine polnische Wissenschaftlerin erforscht Verstecke von Juden im Zweiten Weltkrieg. Sie zeugen vom unbedingten Lebenswillen.
Eine hohe Backsteinmauer und ein düsteres, schwarzes Tor versperren den Blick auf den jüdischen Friedhof in der Warschauer Okopowa-Straße. Wer es durchschreitet, dem eröffnet sich ein riesiger, halbzerfallener Ort mit 200.000 Grabsteinen, von denen viele umgekippt sind. Wegen der hohen Bäume und des wuchernden Unterholzes herrscht hier auch am helllichten Tage eine seltsame, geheimnisvolle Düsternis. Der Friedhof ist ein Ort der Stille mitten in der lauten polnischen Hauptstadt, seine Weite erinnert auch daran, wie viele Juden vor dem Holocaust allein in Warschau lebten. Im gesamten Gebiet des heutigen Polen waren es gut drei Millionen.
Der flächenmäßig größte jüdische Friedhof Warschaus blieb vom Zweiten Weltkrieg zum großen Teil verschont; noch heute finden hier vereinzelt Beerdigungen statt. In einem der unzähligen Gräber fand 1942 der junge Abraham Carmi mit seiner Mutter und einigen weiteren Menschen Zuflucht. Er kannte das Gelände bereits, denn sein Onkel war Direktor des Friedhofs gewesen. Eines Tages sah Abraham, dass Ziegel in eines der Gräber getragen wurden. Dieses Grab war später sein Versteck. "Ob es zu diesem Zeitpunkt leer war, wissen wir nicht", sagt Natalia Romik, die heute, 80 Jahre später, an diesem Ort forscht.
Seit über drei Jahren ist die polnische Politikwissenschaftlerin und Architektin Romik Orten auf der Spur, die während des Holocaust zu Zufluchtsstätten für Juden wurden. Das Thema des Sich-Versteckens von Juden und der Unterstützung, die sie erhielten, wurde zwar schon in verschiedenen Kontexten erforscht - aber das Wissen über die Architektur der Verstecke selbst ist bis heute dürftig, betont Natalia Romik.
Es sind ganz unterschiedliche Orte, mit denen es die 39-jährige Forscherin zu tun hat. Und doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie entstanden aus Angst um das Wertvollste - das eigene Leben und das der Nächsten. "Ein Gedanke lässt mich nicht los: wie Menschen, die oft nur einen Löffel oder ein Messer zu Verfügung hatten, es über Nacht geschafft haben, sich ein Versteck zu bauen, mit Hilfe von jüdischen, aber auch polnischen, ukrainischen oder belarussischen Freunden", sagt Natalia Romik der DW, bevor sie in Abraham Carmis Versteck hinabsteigt.
Carmi überlebte den Holocaust - doch vier Menschen, die das Versteck im Grab mit ihm teilten, wurden wahrscheinlich direkt daneben getötet, berichtet Natalia Romik. Heute lebt Carmi in Israel und ist 97 Jahre alt. Natalia Romik besuchte ihn noch vor der Corona-Pandemie zusammen mit der Anthropologin Aleksandra Janus, mit der sie am Versteck im Grab forscht. Im September 2021 erschien auf polnisch und englisch ein Buch beider Forscherinnen über Carmis Vesteck. In Israel fragte Romik den Überlebenden, wie es möglich gewesen sei, mit mehreren anderen Menschen zusammen auf wenigen Quadratmetern in einem Grab zu leben. Als Kind habe er sich an eine solche Situation schnell anpassen können, antwortete Carmi der Forscherin.