"Hallo, Twitter!"
Süddeutsche Zeitung
Als erster deutscher Bundeskanzler hat Olaf Scholz jetzt einen eigenen Kanzler-Account auf Twitter. Sollte es einen beunruhigen, dass er dort zwar dem US-Präsidenten folgt, Wladimir Putin aber nicht?
Der erste Tweet kam am Sonntagabend: "Herzlichen Glückwunsch, lieber #Bundespräsident!", war da zu lesen. "Und: Hallo, Twitter!" Die erste Mitteilung war eine Selbstverständlichkeit. Natürlich muss der zweite Mann im Staat dem ersten öffentlich zu seiner Wiederwahl gratulieren. Dass er dies allerdings ("Hallo, Twitter!") fortan über ein Portal tut, welches die Welt in den vergangenen Jahren nicht immer ruhiger gemacht hat, das ist neu.
"Wo ist Olaf Scholz?", so titelte im Januar die Welt am Sonntag. Da der Münchner Wimmelbildzeichner Ali Mitgutsch gerade gestorben war, fanden es die Kollegen originell, von ihrem Graphiker ein mitgutschhaftes Wimmelbild anfertigen zu lassen, worin der Leser dann Olaf Scholz suchen sollte. Und nun gibt es Scholz auf Twitter nicht nur als lächelnden @OlafScholz ("Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis 61"), sondern auch als sehr ernsten @Bundeskanzler. Selbst seine Vorgängerin hatte keinen offiziellen Kanzlerinnen-Account.
Man kann daher nur hoffen, dass dem Scholz-Team jetzt nicht so depperte Nachrichten rausrutschen wie der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin Karin Prien (CDU), die ihren Account gerade wegen eines vieldeutigen Corona-Tweets (und dem darauf folgenden Shitstorm) deaktiviert hat. Viel Spott erhielt einst auch jener AfD-Politiker, der mit der Nachricht "Die deutsche Kultur geht den Bach ab" zeigte, dass er von deutscher Kultur überhaupt keine Ahnung hat. Unterhaltsam war auch die Londoner Times, als sie die deutsche Bundeswehr - versehentlich? - "Wehrmacht" nannte. Hoffentlich muss @Bundeskanzler auch niemals ein Foto twittern, das ihn im Zug am Gang sitzend zeigt (wie damals Greta Thunberg). Das Interesse jedenfalls ist da: Bereits nach wenigen Minuten kletterten des Kanzlers Follower-Zahlen ins Unermessliche.
Warum? Weil der interessierte Bürger eben immer gerne ganz vorne mit dabei ist. Weil er das Gefühl mag, dass man ihm stets zu Diensten ist. Zum Beispiel, wenn man ihm, wie der bayerische Ministerpräsident, gelegentlich mit einer Motto-Kaffeetasse zuprostet (Markus Söders jüngste Twitter-Tasse trug die Losung: "Keep calm and carry on"). Ab jetzt darf wirklich jeder mit anderen darüber spekulieren, warum @Bundeskanzler zwar dem britischen Premier Boris Johnson sowie US-Präsident Joe Biden folgt - Wladimir Putin aber nicht. "Danke, dass Du uns etwas mehr teilhaben lässt", bedankt sich eine Kommentatorin. "Vielleicht lässt das einige jetzt ruhiger werden."
Lässt es das? Macht das Gefühl, dass man jetzt weiß, wo der Kanzler gerade ist, die Menschen wirklich ruhiger? Der Soziologe Hartmut Rosa hat im Zusammenhang mit dem Meer digitaler Nachrichten einmal den Unterschied zwischen Schnee und Kunstschnee bemüht. Liegt echter Schnee im Garten, so macht das Menschen glücklich. Kunstschnee hingegen hinterlässt einen faden Geschmack. Im Netz wird hundertstelsekündlich Kunstschnee produziert.