Große Mehrheit für neue Verfassung in Tunesien
DW
Präsident Kais Saïed wird das Ergebnis trotz der eher schwachen Beteiligung als großen Erfolg für sich verkaufen - und beim Abbau der demokratischen Errungenschaften weitermachen. Es ist bereits Herbst in Tunesien.
In Tunesien zeichnet sich bei dem von der Opposition boykottierten Referendum über eine neue Verfassung eine breite Mehrheit für das umstrittene Projekt ab. Laut Nachwahlbefragungen des Meinungsforschungsinstituts Sigma Conseil stimmten zwischen 92 und 93 Prozent der Teilnehmer für den Verfassungsentwurf, der Präsident Kais Saïed deutlich mehr Macht verleihen soll. Saïed selbst sprach vor Anhängern von einer "neuen Phase", in die Tunesien nun eintrete.
Offizielle Ergebnisse werden frühestens am Abend erwartet. Die Wahlbehörde Isie teilte mit, die Wahlbeteiligung habe bei 27,54 Prozent gelegen. Demnach gaben 2,46 Millionen der 9,3 Millionen registrierten Wähler ihre Stimme ab. Das ist wenig, aber mehr als Beobachter angesichts der Boykott-Aufrufe der Opposition erwartet hatten. Isie-Chef Farouk Bouasker sagte, die Wähler seien ihrer historischen Verantwortung gerecht geworden und hätten sich in "sehr respektabler Zahl" in die Wahlbüros begeben.
Das Referendum wurde auch als Abstimmung über Saieds bisherige Führung angesehen. Die insgesamt schwache Beteiligung könnte Saieds Kritikern Aufwind geben und dessen Legitimität schwächen. Viele Tunesier kämpfen mit Arbeitslosigkeit und Armut. Auf diese Probleme geht die neue Verfassung aber kaum ein.
Die Opposition und Nichtregierungsorganisationen befürchten infolge der Verfassungsänderung eine Rückkehr des nordafrikanischen Landes zu einem autoritären System. Sowohl die islamistischen Ennahda-Partei wie auch die säkulare Partei PDL unter Vorsitz von Abir Moussi hatten zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen und nannten das Referendum einen "illegalen Prozess" ohne Absprache.
Nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse in nationalen Fernsehen fuhren Unterstützer Saïeds in Autokorsos durch die Hauptstadt Tunis. Einige von ihnen sangen die tunesische Nationalhymne, manche riefen: "Wir würden unsere Seelen und unser Blut für dich geben, Saïed!" In den frühen Morgenstunden erschien der Präsident selbst vor jubelnden Anhängern. "Tunesien ist in eine neue Phase eingetreten", sagte Saïed laut Fernsehsendern. Er ergänzte, an den Wahllokalen habe es großen Andrang gegeben - der Saïeds Aussagen zufolge noch größer gewesen wäre, wenn an zwei Tagen abgestimmt worden wäre.