Geht doch! Handys sind zum Telefonieren da, können aber auch den Weg zum Klo beleuchten
Frankfurter Rundschau
Check den Zweck: Das Handy ist zum Telefonieren da, kann uns aber auch den Weg zum Klo beleuchten. Super!
Frankfurt - Die „Tagesschau“ (ARD) hat eine App. Das ist nicht neu, sondern schon seit 2010 so. Die App ist mittlerweile mehrfach überarbeitet worden und hat viele Funktionen und Fähigkeiten. Vermutlich ist es eine ganz okaye Nachrichten-App. Nur eins kann man damit nicht tun, oder jedenfalls geht es nur schwer: die „Tagesschau“ gucken. Die 20-Uhr-„Tagesschau“ von heute. Ich weiß das, weil ich mit einer Person verwandt bin, die gern täglich die „Tagesschau“ sehen möchte. Sie besitzt seit vielen Jahren ein Tablet, mit dem sie gut umgehen kann. Manchmal verpasst sie die Sendung im Fernsehen und möchte sie dann auf diesem Tablet sehen. Mit der „Tagesschau“-App (ARD). Warum auch nicht? Die App heißt wie die Sendung und ist die offiziell für diesen Zweck vorgesehene Anwendung.
Man muss dazu oben links in der ARD-App ein fernseherähnliches Icon ausfindig machen und antippen. Es ist sehr klein. Das Antippen klappt nicht immer. Es klappt auch manchmal nur in der Hochformat- oder nur in der Querformateinstellung der App. Und nur dann, wenn nicht zufällig ein Video über dem Icon liegt. Nachdem man also in einer App, die vom Fernsehen handelt, das winzige „Ja, fernsehen! Ich will wirklich fernsehen!“-Icon gefunden und erfolgreich angetippt hat, gelangt man auf eine Seite, die vollständig ausgefüllt ist von einem Video, das der 20-Uhr-„Tagesschau“ sehr ähnlich sieht. Das ist aber noch nicht die „Tagesschau“. Um zur eigentlichen „Tagesschau“ zu gelangen, muss man dieser Falle ausweichen, nach unten scrollen und unter den dort versammelten kleineren Videos das richtige finden. Es ist nicht immer am gleichen Ort. Und wenn man nicht sehr genau hinguckt, ist es vermutlich die „Tagesschau“ von gestern.
Das heißt nicht, dass die „Tagesschau“-App schlechter wäre als andere Apps. Sie folgt nur einem Naturgesetz. Der Autor John Gall hat es 2002 in seinem Klassiker „The Systems Bible“ beschrieben: Systeme werden im Laufe der Zeit größer und komplizierter, und dabei kommen ihnen ihre grundlegenden Funktionen abhanden. Supertanker können nicht mehr in Häfen einfahren. Die frühen Flugzeuge konnten noch auf einem Acker starten und landen, eine Boeing 747 braucht drei Kilometer betonierte Startbahn, und das Spaceshuttle kann fast gar nicht mehr landen.
Die Ausgabe von 2002 war die dritte und letzte, John Gall ist mittlerweile verstorben. Seitdem sind viele neue Beispiele für das Naturgesetz nachgewachsen. Die iTunes-App war ursprünglich mal, in den frühen Nullerjahren, ein Programm zum Verwalten der eigenen Musiksammlung und zum Abspielen von Musik. Einige Jahre später konnte man damit auch Filme gucken, Podcasts hören, E-Books lesen, Apps verwalten und Backups von Daten machen. Das alles ging immer langsamer und umständlicher. iTunes ist zum Standardbeispiel für Apps geworden, die immer mehr wollen und immer weniger können – schon gar nicht das, was eigentlich mal ihr Haupteinsatzzweck war.
Auch bei Webseiten, vor allem denen großer Institutionen und Unternehmen, ist es oft so, dass sie in ihrer Frühzeit mal eine ganz bestimmte, überschaubare Aufgabe erfüllt haben. Nach und nach werden sie dann mit anderen Funktionen vollgestopft. Die ursprüngliche Funktion ist schon noch irgendwo vorhanden. Man muss nur den Punkt „Info“ finden und dort dem Link „Navigation“ folgen, dort gibt es dann eine Rubrik „Intern“ mit einem Unterpunkt „Archiv“, in dem sich die Abteilung „Sonstiges“ befindet – und schon vier bis fünf Schritte später ist man am Ziel.