Die Renaissance im Gepäck
Süddeutsche Zeitung
Albrecht Dürer reiste in niederländische Hafenstädte, überquerte die Alpen. Die epochale Schau aus Aachen dazu ist jetzt in London zu sehen. Doch die National Gallery verschiebt den Fokus.
"Dürer's Journeys", der Titel der Ausstellung in der Londoner National Gallery, klingt schlicht. Doch hebt schon die Feststellung, dass der Künstler Albrecht Dürer reiste, ihn ab von seinen Zeitgenossen. Natürlich waren auch andere Maler und Bildhauer unterwegs, hangelten sich von Auftrag zu Auftrag, konkurrierten um Anstellungen bei Bischöfen oder an Fürstenhöfen. Allein der 1471 in Nürnberg geborene Dürer reiste in der Hoffnung, dass er mit der letzten Etappe wieder in seiner Heimatstadt ankommen wollte. Was aus der Vogelperspektive der Kunstgeschichte fast eigentümlich wirkt. Auch wenn Nürnberg nicht nur ein bedeutendes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum in Europa war, so bleibt der Meister dort irgendwie allein - während die Kunst sich mit den Orten, die er bereisen sollte, über Jahrhunderte zu verbinden schien, vor allem mit Venedig und Antwerpen.
"Dürer's Journeys" ist die zweite Station eines gemeinsamen Ausstellungs-Projekts zwischen der National Gallery und dem Aachener Suermondt-Ludwig-Museum, das genau ein halbes Jahrtausend nach Dürers letzter Reise in den Norden hätte beginnen sollen, der Pandemie wegen aber verschoben werden musste. Die gewaltigen fünfhundert Jahre Abstand verkürzen sich aber ohnehin, wenn man weiß, dass Dürers Aufbruch im Jahr 1520 auch durch den Ausbruch der Pest in Nürnberg motiviert wurde. Überhaupt schien die Schau in Aachen erstmals auch den Menschen zugänglich zu machen: Direktor Peter van den Brink hatte nämlich nicht nur rare Leihgaben zusammengebracht, sondern auch die Tagebücher ausgewertet, berichtete vom Alltag eines Reisenden der frühen Neuzeit.
Und da fiel zunächst die Diskrepanz auf zwischen einem, dessen Genie die in Italien gerade erst aufblühende Renaissance für Nordeuropa künstlerisch erschloss und der sich meisterlich in die Präzision und Konzentration flämischer Malerei einfühlen konnte, dessen Tagebuch aber vor allem die täglichen Ein- und Ausgaben dokumentierte. Von den zehn Pfennigen, die ein gebratenes Huhn kostete, bis zum Preis von Socken. Dürer blieb einsilbig, wenn er notierte, dass er an einer Hinrichtung vorbei fuhr, bemerkte aber, dass besonders lange Kerzen bei einer Prozession durch Antwerpen getragen wurden. Und während er akribisch die Trachten der Niederländerinnen festhielt, oder das Oktagon des Aachener Doms, verzeichnete er die Akquise von Haifischflossen, Muscheln und Pfeilen. So nah, da war sich die Kritik einig, ist man dem Künstler noch nie gekommen.
Schon als Geselle, der bis nach Basel und Straßburg gereist war, hatte Dürer den Wert der unmittelbaren Anschauung verinnerlicht in Zeiten, in denen man Kunst aufsuchen musste. In den Jahren 1495 und 1496 überquerte er erstmals die Alpen, zwischen 1505 und 1507 hielt er sich in Venedig auf. Sein fast wissenschaftliches Interesse an Malerei paarte sich mit einer intuitiven Liebe zu allem Exotischen, Fremdem und Rarem, das er sich als Sammler einverleibte und als Kenner würdigte. Es sagt viel über die Neugier eines solchen Weltenbummlers aus, dass er, inspiriert von den Skulpturen auf dem Markusplatz, seinen ersten Löwen malt - und viele Jahre später seine Darstellung nach einem Besuch in der Menagerie von Brüssel vollkommen neu anlegt.
Dass vor allem die letzte große Tour in den Norden eine Dienstreise war, im Wortsinn, erweitert die Perspektive auf die Kunst. Anlass war Dürers - erfolgreicher - Versuch, Karl den Fünften nach seiner Krönung zu bitten, die jährliche Leibrente, die ihm dessen Vater gewährt hatte, weiterhin auszuzahlen. Und wie ein Handlungsreisender in Sachen Renaissance rüstete sich der Künstler mit Holzschnitten und Drucken, Büchern und Malutensilien. Er wurde dann von Zünften empfangen, begegnete Auftraggebern und Künstlern, Diplomaten und Gelehrten wie Erasmus von Rotterdam. Die Arnolfini-Hochzeit, Jan van Eycks schon damals berühmtes Gemälde, konnte er im Schlafgemach der Statthalter von Österreich in Mechelen inspizieren.