
"Der Zerfall Russlands dauert noch an"
n-tv
Der ukrainische Historiker Serhii Plokhy sieht Russland als zerfallendes Imperium: "So wie ich die Geschichte Russlands betrachte, begann der Zerfallsprozess in der Mitte des Ersten Weltkriegs, und er dauert immer noch an", sagt er im Interview mit ntv.de.
Plokhy hat ein sehr lesenswertes Buch über den russischen Krieg gegen die Ukraine geschrieben, das hilft, den Krieg zu verstehen. Im Interview spricht der Harvard-Historiker über Russland als Kolonialmacht, die Ukraine in Europa, Putin, Merkel und Scholz. Die Altkanzlerin sieht er als tragische Figur. "Merkel verstand Putin wahrscheinlich besser als jeder andere Regierungschef in Europa, aber sie erkannte nicht, wie sehr sich Russland seit dem Ende des Kalten Krieges verändert hatte", sagt er. "Sie war eine Geisel der alten Politik und des alten Denkens."
ntv.de: Sie wurden in der Sowjetunion geboren, zu einer Zeit, als Nikita Chruschtschow an der Spitze von Kommunistischer Partei und Staat stand. Erinnern Sie sich, wann Ihnen zum ersten Mal bewusst wurde, dass Sie Ukrainer sind?
Serhii Plokhy: Ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass es zwei Sprachen um mich herum gab. Das war, bevor ich zur Schule ging. Mein Freund war ethnischer Russe, ich bin ethnischer Ukrainer. An einem Frühlingstag beobachteten wir das Eis auf dem Fluss. Mein Freund benutzte das ukrainische Wort für die Eisschollen, ich das russische. Wir stritten, welches Wort richtig sei, und als wir einen Erwachsenen aufsuchten, um den Streit zu schlichten, sagte der uns, dass beide richtig seien, und er erklärte und, dass das eine Wort ukrainisch und das andere russisch war. Es gab auch noch andere Erfahrungen dieser Art. Als ich ein Teenager war, fragte ich meine Mutter, warum wir Gedichtbände des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko in unseren Bücherregalen stehen hätten. Sie sagte: "Wir sind Ukrainer, also müssen wir Schewtschenko haben."
