"Das System Kirche hat sich über alles gestellt"
Süddeutsche Zeitung
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist seit 2010 Ehrenbürger der Stadt Freising. Nun belastet ihn das Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Erzdiözese schwer. Die neuen Vorwürfe stoßen auch in der Bischofsstadt auf Entsetzen.
Die Stadt Freising hat Papst Benedikt XVI. im Januar 2010 in einer Sonderaudienz in Rom die Ehrenbürgerwürde verliehen. Ein Relief mit einer Darstellung des Papstes und der Inschrift "Papst Benedikt XVI. - Ehrenbürger der Stadt Freising" erinnert im Torbogen zum Domhof an Papst Benedikt und Freising. Nach den Erkenntnissen aus dem Gutachten, das Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten in vier Missbrauchsfällen vorwirft, stellt sich die Frage, wie die Stadt Freising mit dieser Ehrenbürgerschaft umgeht. Die SZ hat dazu Politiker und Kirchenvertreter befragt.
"Ich finde es schrecklich - auch wenn sich die Katastrophe, die nun offiziell verkündigt wurde, bereits massiv angedeutet hat. Aber der Vorwurf der Lüge gegen den emeritierten Papst ist das Tüpfelchen auf dem i. Jetzt wurde endgültig deutlich, dass auch Päpste nur Männer und Menschen sind - und nicht Stellvertreter Gottes auf Erden. Der Versuch der Vertuschung ist für mich das eigentlich Schlimme. Das bestätigt, dass der Kirche der Schutz des eigenen Systems wichtiger ist als die Seelsorge der Menschen. Das System Kirche hat sich über alles gestellt - das ist erschreckend. Hochmut, Lüge und Missachtung der Opfer sind sehr deutlich zutage gekommen und das ist nicht nur frustrierend, sondern ärgerlich. Weil das alles nun auch automatisch mit allen katholischen Organisationen und Verbänden in Verbindung gebracht wird. Ich denke, dass nun viele Katholiken, die bereits gezweifelt haben, aus der Kirche austreten werden. Aber irgendwann wird auch dieser Skandal wieder vergessen sein."
Marina Freudensein ist Geschäftsführerin des Katolischen Kreisbildungswerks in Freising.
"Ich denke, dass man sagen kann, dass das Ergebnis nicht gänzlich überraschend kam, der Umfang und die Dimension der systematischen Verantwortung haben mich aber schon überrascht und auch schockiert. Über den Umgang von Benedikt mit den Missbrauchsfällen bin ich natürlich enttäuscht. Es war ja eine Kernaussage der Gutachter, dass hier systematisch das Augenmerk auf den Schutz der Institution statt der Opfer gelegt wurde. Das entspricht aus meiner Sicht nicht dem Grundgedanken christlichen Handelns, nämlich bei den Opfern zu stehen. Aus meiner persönlichen Sicht ist es unabdingbar, dass ein mögliches strafrechtliches Verhalten sofort an die entsprechenden Stellen gemeldet wird und bei der Aufarbeitung kooperativ unterstützt wird. Das muss unverhandelbar sein. Für die Opfer der vergangenen Jahrzehnte ist es meines Erachtens wichtig, dass sie endlich gesehen werden und alle Energie darauf verwendet wird, mit ihnen, nicht gegen sie zu arbeiten.
Freisings Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher.
