Bei aller Euphorie müssen die Grünen dringend aus Fehlern lernen
Süddeutsche Zeitung
Bei der Bundestagswahl blieb die Partei weit unter ihren Erwartungen. Nun hat sie zwei neue Vorsitzende - und die haben eine klare Aufgabe.
Der Parteitag der Grünen begann mit einer Euphorie, die nahe an der Überdosis lag. Zu spüren war: Für viele ist dies ein großer Moment. Aber sehen sie auch, dass dies zugleich ein gefährlicher Moment ist? Euphorie kann tückisch sein. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie nicht in die Falle ihrer eigenen Begeisterung und ihrer großen Freude am Regieren spazieren. Es besteht für sie das Risiko, dass sie zu wenig aus Fehlern und Mängeln lernen, die ihnen 2021 im Bundestagswahlkampf ein mögliches besseres Wahlergebnis verhagelt haben. Hier liegt eine große Aufgabe für die zwei neuen Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour, die an diesem Samstag gewählt wurden - beide mit einem beachtlichen Ergebnis. Sie müssen Antworten auf inhaltliche, aber auch strukturelle Mängel der Partei finden.
Die Grünen sind, das ist ein Verdienst vor allem der bisherigen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck, enorm schnell gewachsen. Das gilt für die so imponierend gewachsene Zahl der Mitglieder wie für die enorme Zahl an Grünen in politischer Verantwortung - mit so vielen Ämtern in Regierungen und Verwaltungen wie noch nie, im Bund, in den Ländern, in Städten und Landkreisen und Gemeinden. Ausgiebig feierten die Grünen diesen Aufschwung auf diesem virtuellen Parteitag - also sich selbst. Da zählten Rednerinnen auf, wie großartig all diese Aufgaben seien. Stolz bestätigten sie einander, dafür die besten Konzepte zu haben. Diese Begeisterung mag ihnen helfen. Sie kann eine Antriebskraft für die mühsame politische Alltagsarbeit sein. Zu spüren war, dass viele von ihnen, gerade die jungen Abgeordneten im Bundestag diesen Zauber des politischen Aufbruchs zum ersten Mal erleben.
Der Partei-Vorstand wollte die diskussionsfreudigen Mitglieder ein wenig bremsen. Doch die mucken auf. Von Constanze von Bullion und Jens Schneider
Die Grünen haben im letzten Jahr gesehen, wohin es führen kann, wenn sie sich von ihrer eigenen Euphorie überwältigen lassen und die Fallstricke auf ihrem Weg nicht vorausahnen. Die Partei ging im Frühjahr in den Bundestagswahlkampf mit dem Gefühl, als ob es immer nur nach oben gehen könnte. Imponierend professionell präsentierten sie ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Aber nur wenige Tage später erwies sich diese Kandidatur als schlecht vorbereitet, was niemand allein der Kandidatin anlasten sollte.
Es war offenkundig versäumt worden, mögliche Angriffspunkte rechtzeitig selbst zu suchen und sich für Attacken zu wappnen. Die Führung der Grünen und ihr Stab wirkten überrascht von der Welle der Kritik und böser Häme. Einer Welle, mit der sie hätten rechnen müssen. Auf Fehler folgten fehlende oder unzureichende Reaktionen. Sie gerieten in die Defensive, obwohl diese Partei und ihre Kandidatin doch die Herausfordererin sein wollte. Anstatt eigene Schwerpunkte zu setzen, mussten sie ständig reagieren und fanden sich in dieser Rolle lange nur schwer zu Recht. Erschrocken bangten sie im Sommer, sie könnten alles verlieren, was sie schon sicher glaubten.