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Bauchschmerzen und verrückte Wachstumsschritte
Frankfurter Rundschau
Die deutschen Handballer erleben bei der EM ein Wechselbad der Gefühle / Zum Hauptrunden-Auftakt am Donnerstag geht es gegen Titelverteidiger Spanien
Die deutschen Handballer befinden sich bei der Europameisterschaft gerade in einer besonderen Situation mit irren Wendungen und skurrilen Entwicklungen. Besonders ist dabei auch, wie ein 60minütiges Handballspiel für einen generellen Stimmungswandel sorgen kann. Vor dem 30:23 der Deutschen im finalen Vorrundenspiel gegen Polen am Dienstagabend waren Bratislava und im Besonderen das Teamhotel der Delegation des Deutschen Handballbundes (DHB) die bekanntesten Corona-Hotspots und die Rufe nach einem Rückzug des Teams wurden in der Öffentlichkeit lauter. Vor dem Start in die Hauptrunde mit dem Duell gegen Spanien (18 Uhr/ARD) am Donnerstag rückte zumindest vorübergehend die sportliche Lage in den Vordergrund der Debatte: Kann diese durcheinandergewürfelte deutsche Mannschaft den Titelverteidiger schlagen?
„Die Nachrichten in den vergangenen zwei Tagen haben ganz schön reingeknallt. Mir fehlen gerade ein wenig die Worte. Was wir in diesen 60 Minuten abgerissen haben, ist einer der schönsten Momente, wie wir zusammen erlebt haben“, sagte Spielmacher Philipp Weber. Der Magdeburger sprach stellvertretend für die Kollegen, die nach den Horror-Botschaften der 24 Stunden zuvor eine nicht vorstellbare Leistung gezeigt hatten. Insgesamt neun Nationalspieler befinden sich nach einem positiven Coronatest in Isolation, gegen Polen standen in Torwart Johannes Bitter und Linksaußen Rune Dahmke zwei Akteure in der Startformation, die erst wenige Stunden vor dem Anwurf als Nachrücker in Bratislava angekommen waren.
„Das ist das Verrückteste, das ich als Handballer gemacht habe“, gestand Bitter ein. Der 39-Jährige wurde vor wenigen Tagen Vater, hatte wochenlang kein handballspezifisches Training absolviert und stand plötzlich bei einer EM auf dem Feld. Es sind insgesamt sehr spezielle Umstände, die sehr spezielle Geschichten hervorbringen – und offensichtlich sehr spezielle Leistungssprünge ermöglichen. Bislang unbekannte Spieler wie Christoph Steinert oder Julian Köster wachsen über sich hinaus. Befreit von öffentlicher Erwartungshaltung schwingt sich das Team zu Heldentaten auf. Das Durcheinander der vergangenen Tage führte zu einem Energieschub, der die Aufgabe gegen Spanien nicht unlösbar erscheinen lässt. „Spanien hat eine sehr schlaue Mannschaft, das wird sehr schwierig“, sagte Bundetrainer Alfred Gislason. Der Isländer hat Respekt, fühlt parallel aber die unerwarteten Wachstumsschritte der eigenen Mannschaft. Hinzu kommt, dass der Druck auf den Iberern lastet. Die Fallhöhe für den Europameister von 2018 und 2020 gegen eine wild durcheinandergewürfelte deutsche Mannschaft ist groß.
Bei aller sportlich nachvollziehbaren Begeisterung im deutschen Lager schwebt weiter eine große Gefahr über der Mannschaft. Die Lage ist weiterhin fragil. Der nächste PCR-Test kann die Kreise des Corona-Ausbruchs größer ziehen. „Wir wissen, dass es bei uns aktuell nicht sehr sicher ist. Wir versuchen einfach, die Risiken zu minimieren“, sagte Axel Kromer, Vorstand Sport beim Deutschen Handballbund. Im Grunde befinden sich inzwischen alle Spieler in selbst auferlegter Isolation, die Hotelzimmer werden nur verlassen, um sich Essen zu holen, zu trainieren oder zu spielen. „Wir haben die Kontakte weiter eingeschränkt, aber Training muss sein“, sagte Kromer.
„Natürlich geht man zu jedem PCR-Test mit einem gewissen Bauchschmerz“, sagte Köster, in dem Wissen, dass sein gelebter Traum jederzeit durch ein positives Testresultat beendet sein kann. „Diese Gedanken versuche ich in meinem Kopf ganz hinten zu vergraben“, sagte Steinert, der wie die Kollegen auch vor der Aufgabe steht, während der quälend langen Stunden auf dem Hotelzimmer nicht in Lethargie zu verfallen. „Ich mache klar zu viel auf dem Handy“, räumte der Halbrechte ein: „Ansonsten versuche ich viel zu telefonieren. Ich stehe viel mit meiner Mama in Kontakt.“ Köster, Steinert und die anderen Nationalspieler schweben gerade auf einer Wolke voller Glücksgefühle und haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, diesen Zustand zu genießen.