Angriff auf die Zeit
Süddeutsche Zeitung
In den Romanen des norwegischen Schriftstellers Jon Fosse vergeht die Zeit so langsam, als wollte sie zum Stillstand kommen. Lässt sich das Vergehen aller Dinge so vielleicht tatsächlich aufhalten?
In einem allein gelegenen Haus über einem norwegischen Fjord wohnt ein Maler namens Asle. Er heizt mit einem Kaminofen, er trägt immer die gleiche schwarze Samtjacke, und wenn er in seinem Sessel sitzt, schaut er immer wieder auf denselben Punkt über dem Wasser. Asle ist allein, und er kennt nicht viele Menschen: den Bauern Åsleik, dessen Hof einen Kilometer entfernt liegt und der ihm in praktischen Dingen hilft. Den Galeristen Beyer, der in der nächsten Stadt lebt und die Bilder des Malers verkauft.
Darüber hinaus tritt ein anderer Maler auf, der nicht nur ebenfalls Asle heißt, sondern darüber hinaus dem ersten Asle bis auf den dünnen grauen Zopf gleicht. Auch diese Figuren sind jeweils allein. Im Lauf der Erzählung lösen sich ein paar andere Menschen aus den Kulissen. Einige von ihnen erscheinen wie Asle und Asle im Doppel. Das Personal eines Theaterstücks könnte so beschaffen sein, mit Figuren, die auf die Bühne treten, als wären sie aus notwendig engen Verhältnissen ausgeschnitten.
Tatsächlich schrieb der Autor dieser Geschichte in früheren Jahren eine ganze Reihe von Dramen. Etliche von ihnen wurden auch in deutschen Theatern gespielt. Hier aber handelt es sich um eine lange Erzählung. Es könnte auch nicht anders sein. Und um es gleich zu sagen: Jon Fosses jüngstes Werk ist ein außerordentlicher Roman, einzigartig in seinem Ton, sorgfältig in seiner Anlage und von fast unheimlicher Tiefe.
Der Roman ist eine "Heptalogie", besteht also aus sieben Büchern. Die ersten beiden, in einem Band zusammengefasst, waren im Herbst 2019 unter dem Titel "Der andere Name" auf Deutsch erschienen. Den drei folgenden Büchern, die in diesen Tagen wiederum in einem Band veröffentlicht wurden, lieh Arthur Rimbaud die Überschrift: "Ich ist ein anderer". Und so wie dieser Satz eine Programmerklärung der ästhetischen Moderne war, eine Zauberformel für lyrische Grenzüberschreitungen aller Art, so liegt diesem Roman die Absicht zugrunde, die Prosa bis an die Grenze des Sagbaren und darüber hinaus zu treiben.
Langsam geht die Handlung voran, in einem unendlichen Fluss der Bilder und Gedanken, die ineinander kreisen und immer wieder zu denselben Ideen oder Ereignissen zurückkehren, ohne Punkt und Absatz, aber mit vielen Kommas. Es dauert eine Weile, bis der Leser sich dem trägen Fluss der Dinge anvertraut.