„Die Regierung lässt sich mehr von Gewalt beeindrucken als von friedlich artikulierter Wut“
Die Welt
Laurent Berger, Frankreichs mächtigster Gewerkschaftsboss, ist die Schlüsselfigur in dem sozialen Konflikt, der Frankreich lahmlegt. Um die Rentenreform gehe es dabei nur vordergründig, beschreibt er im WELT-Interview. Der wirkliche Grund für die Wut steckt tiefer.
WELT: Monsieur Berger, die Stimmung in Frankreich ist explosiv, der Präsident stellt sich stur. Können Sie uns erklären, wie es zu diesen verhärteten Fronten kam?
Laurent Berger: Der Auslöser ist eine Rentenreform in einem Land, das nicht immer, aber oft Probleme mit der Reform der Renten hatte. Was in diesen Protesten aber vor allem zum Ausdruck kommt, ist der Wunsch nach Anerkennung und Respekt für die Arbeit. Der Präsident hat sich nicht klargemacht, dass wir gerade eine Pandemie hinter uns haben. Sie hat die Arbeit verändert und das Verhältnis zur Arbeit durchgerüttelt. Vor allem für diejenigen Arbeitnehmer, die auch während der Lockdowns in erster und zweiter Linie im Gesundheitswesen, in der Pflege, in der Lebensmittelindustrie, in der Abfallwirtschaft und im Verkauf weitergearbeitet haben, gab es für ihren Einsatz keine Anerkennung durch Gehaltserhöhungen. Im Gegenteil. Sie sind jetzt die Zielgruppe der Rentenreform. Der Konflikt mag sich an den Renten entzündet haben, er ist aber dabei, sich in eine demokratische Krise zu verwandeln.